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„Unsterblicher Zirkus“ starb in Magdeburg

Gestern gab der Zirkus Aeros seine letzte Vorstellung / Die Großtiere kommen nach Hoppegarten Von THOMAS WISCHNEWSKI,

  • Lesedauer: 3 Min.

Traurig sitzt Pipeline (Anette Samel) vorm Zirkuswagen Foto: ZB

Maqdeburg

Mit einem neuen Programm startete der Zirkus Aeros in die neue Saison. Mit „Unsterblicher Zirkus“ wollten Artisten, Dompteure, Clowns und Direktorin Christiane Samel ihre Zuschauer in vier Bildern durch die Geschichte des Zirkus führen. Wenn sie denn Zuschauer gehabt hätten. Waren die vergangenen zwei Jahre seit der Privatisierung schon nicht besonders rosig, begann die neue Saison für den letzten noch existierenden Teil des ehemaligen DDR-Staatszirkus mit einem Fiasko. „Wir haben bei der ersten Vorstellung in Stendal nur zehn Karten verkauft, und Stendal war kein Einzelfall.“ Christiane Samel warf das Handtuch. Gestern gab der Zirkus Aeros in Magdeburg seine letzte Vorstellung.

Das Aus stand eigentlich schon 1992 auf dem Tourneeprogramm. „Im Jahr zuvor hatte die Treuhand ja die Liquidation des DDR-Staatszirkus beschlossen“, erzählt Christiane Samel, die früher bei eben diesem Zirkus gemeinsam mit ihrem Ehemann als

Raubtierdompteurin gearbeitet hatte. Sie handelte spontan. Sie kaufte von der Treuhand den traditionsreichen Namen, einen Teil des Fuhrparks und der Tiere.

Seitdem hat sie für das Überleben ihres Zirkus gekämpft bis gestern. Nach zwei Jahren, in denen sie „morgens voller Hoffnung aufstand und abends voller Enttäuschung ins Bett ging“, gab sie mit 150 000 Mark Schulden auf. Wie es für sie, für ihre Mitarbeiter und Artisten weitergehen soll, weiß sie nicht. Als Straßenkünstler ist sie sich bei aller Resignation zu schade: „Wenn das deutsche Publikum keine Kultur mehr will, dann brauchen wir auch keine Kultur mehr zu machen. Als Unterhaltungskunst gilt doch nur noch die Eröffnung eines Autohauses oder eines Shopping-Centers.“

Mit dem Aus des Zirkus Aeros stehen rund 120 Mitarbeiter, Tierpfleger, Dompteure, Artisten und Clowns vor dem Nichts. Andere Zirkus-Unternehmen haben ihre Programme längst zusammengestellt. „Da ist es jetzt unglaublich schwer, noch irgendwo reinzukommen“, sagt Todesrad-

fahrer Tom Darcey. Auch für den 42jährigen Oberrequisiteur Jürgen Freitag, genannt „Honza“, sieht die Zukunft düster aus. „Nach Hause fahren und stempeln gehen“, faßt er seine Perspektiven zusammen.

Genau weiß die Direktorin nur, wie die nächsten Tage aussehen. „Wir bauen ab und fahren in die Winterquartiere.“ Die Großtiere kommen nach Hoppegarten. Dort verwaltet die Treuhand-Nachfolgerin, die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben, immef noch den größten Teil der Tiere des einstigen Staatszirkus. Da Frau Samel die Großtiere für ihre Show lediglich gemietet hatte, muß die BvS sie zurücknehmen.

Gestern gab es einen letzten Rettungsversuch. Alle Artisten, Clowns und Dompteure haben sich bereit erklärt, auch ohne Gage zu arbeiten, wenn der Zirkus nur weiterlebe. Die Chefin zweifelte aber bei Redaktionsschluß noch sehr, ob sie sich davon umstimmen ließe. Die 10 000 Mark, die der Zirkus jeden Tag kostet, bestünden schließlich nicht nur aus Gagen.

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