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  • Kultur
  • Sämtliche Erzählungen von Anna Seghers - und darunter manche Entdeckung

Beginn mit einer Erzählung im Seemannslatein

  • CHRISTEL BERGER
  • Lesedauer: 5 Min.

die wesentlichen Ergänzungen gelten. In Band I (1924-1933) sind fünf Erzählungen enthalten, die in der Werkausgabe, nicht zu finden sind. In Band II (1934-1946) sind es drei, für die folgenden Jahre nur noch „Die Stiefel“, ein Text, der zum Hörspiel tendiert, und die erst im Nachlaß gefundene, von Anna Seghers nicht zur Veröffentlichung freigegebene, unfertige Geschichte „Der gerechte Richter“

Zweifellos bereichern und vervollständigen die neu hinzugekommenen Erzählungen die Sammlung und bestätigen das Bild von Anna Seghers als wandlungsfähige Schriftstellerin. Zeigt sich die Autorin der ersten Geschichte von der spukhaften Insel Djal vor allem in ihrer Sehnsucht nach dem nicht Alltäglichen, dem Ungewöhnlichen, fällt in den später entstandenen „Der Vertrauensposten“ und „Der sogenannte Rendel“ die Betonung des sozialen Aspekts auf. Übri-

gens beruhen diese Geschichten auf einer wahren Begebenheit aus der Heimatstadt Mainz: Eine Frau hatte, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen, sich als Mann verkleidet und blieb längere Zeit auf diesem „Posten“ Interessant sind die verschiedenen Varianten der Erzählung. Bekanntlich hat sich auch Bertolt Brecht an eben diesem Stoff versucht.

In einer anderen Erzählung in Band II - „Das Kochbuch“, vermutlich im Exil geschrieben - probiert sich Anna Seghers als Kriminalgeschichten-

Schreiberin aus, und mit „Die Unschuldigen“ (1945) stellt sich wiederum eine ungewohnte Anna Seghers ? vor: Noch in Mexiko beschrieb sie, wie die verschiedenen Kriegs-Schuldigen nach dem Desaster ihre Verantwortung für das Ge-“schehene von sich weisen. Das reicht bis zu Adolf Hitler, der nun leugnet, Deutscher zu sein und auch gar nicht Hitler sein will, denn er hieße ja eigentlich

Siihicklgruber. Eine böse Satire, die in dieser Art einzigartig im Schaffen der Seghers ist, aber wohl auch nicht - wie die meisten dejr hier erfolgten Ergänzungen - zu ihren stärksten Texten gehört.

Die freilich kann man in den vorliegenden Bänden erneut nachlesen. Etwa den „Ausflug der toten Mädchen“ oder die Erzählungen aus dem Zyklus „Die Kraft der Schwachen“ oder „Crisanta“ oder „Die schönsten Sagen vom Räuber Woynok“ oder oder Schon beim Blättern liest man sich fest, und der Reiz dieser herben Prosa, in der kein Wort zu viel ist, packt einen wieder.

Die Texte sind streng chronologisch nach der Entstehungszeit geordnet - so, wie sie die heutige Forschung datiert. Dabei fällt auf, wieviele Stücke in den Jahren 1948-1949 entstanden sind. Was Anna Seghers sonst in einem Zeitraum von über zehn Jahren schrieb, hat sie (zumindest

quantitativ) nach ihrer Rückkehr aus Mexiko in Jahresfrist erarbeitet. Darunter sind die beiden ersten karibischen Erzählungen („Die Hochzeit von Haiti“, „Wiedereinführung der Sklaverei in Guadeloupe“), die schöne, mehrdeutige Geschichte „Das Argonautenschiff, in dem die Autorin dem Geheimnis und Tod des Kapitäns der „Argo“, Jason, nachsinnt, und „Die Linie“, eine Art Hommage an Kampf, Leid und Verstand des Parteiarbeiters überall auf der Welt, und erste Versuche, das in der Heimat Vorgefundene literarisch zu gestalten.

Die unterschiedliche Qualität dieser und der folgenden Erzählungen weist darauf hin, daß auch eine Erzählerin diesen Formats wieder „Lehrgeld“ bezahlen mußte, um mit der veränderten Welt- und Lebens-Situation fertig und souverän gegenüber den neuen/alten Stoffen zu werden. Außerdem fällt dabei auf, daß Anna Seg-

hers fast gleichzeitig mythologische Stoffe und „reale“ - historische oder aktuelle aus dem Alltag der Arbeiterbewegung - behandelte, Hauptsache, sie waren geeignet, die Phänomene des Lebens, die ihr damals wichtig waren, zu gestalten. Wer die „verrätselte“ Anna Seghers mit ihren mythologischen Geschichten von Jason oder der Artemis noch nicht entdeckt hat> den erwartet ein Leseerlebnis. Mir fiel diesmal beim Lesen der ganz späten Geschichten Anna Seghers' die eigenartige Annäherung der Autorin an die Sehnsüchte der Jugend auf.

Alles in allem ist diese Kassette ein verdienstvolles Unternehmen: So können Freunde gefunden werden, aber auch die alten werden nicht enttäuscht. Die Nachwörter von Sonja Hilzinger versuchen, zu den im jeweiligen Band befindlichen Texten den Kontext an Zeitgeschehen, Literaturverhältnissen und speziellen

Lebensbedingungen der Autorin zu liefern, was angesichts der jetzigen Umbewertung der Sicht auf dieses Jahrhundert kein einfaches Unterfangen ist. Warum jedoch der ungenannte Herausgeber den hörspielartigen Text „Die Stie'fel“ aufgenommen, aber die beiden anderen Hörspiele der Seghers („Der Prozeß der Jeanne d'Arc zu Rouen“ und „Ein ganz langweiliges Zimmer“) draußeriließ, bleibt mir unverständlich. Die - wenn auch längste - nicht nur mir sehr wichtige Erzählung „Überfahrt“, die in dieser Kasette nicht enthalten ist, kam fast gleichzeitig im Aufbau Taschenbuch Verlag als Einzelausgabe heraus. Anläßlich der Jubiläumsaktion „50 Jahre Aufbau-Verlag“ wurden unter dem Titel „Der Ausflug der toten Mädchen“ diese und drei weitere Erzählungen aus dem Exil („Post ins Gelobte Land“ und „Das Ende“) publiziert.

Anna Seghers: Sämtliche Erzählungen in sechs Bänden. 68 DM.

Überfahrt. Eine Liebesgeschichte. 12,90 DM. Der Ausflung der toten Mädchen und andere Erzählungen. 8 DM.

Alle Auflau Taschenbuch Verlag.

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