- Kultur
- „Kiosk“, ein neuer Gedichtband von HANS MAGNUS ENZENSBERGER
Fortschritt in der Warteschleife
Als Hans Magnus Enzensberger 1957 mit seinem Gedichtband „Verteidigung der Wölfe“ debütierte, hatte die deutsche Lyrik plötzlich eine andere, eine direkte, eine draufgängerische Sprache. Kein Blatt mehr wird vor den Mund genommen, wenn es um Gebrechen des Landes, der Menschen, der Zeit und der Welt geht. Ein wenig später, in „Landessprache“, sind die politischen Anliegen noch deutlicher herausgeschrien: „wer hat uran im urin?/ wer ist in den zähen geifer der gremien eingenäht?/ wer ist beschissen von blei?“ Und in „Schaum“, dem wohl gewichtigsten Beitrag dieses Bandes, bündeln sich krasse Erkenntnis und ahnende Voraussicht: „derklassenkampfist zu ende, am boden liegt/ die beute in ihrem fett, liquide,/ schäum in rosigen äugen, verschimmelt/ in den Vitrinen ruhn, unter cellophan,/ banner und barrikaden, aus einer an-
tiken Jukebox dröhnt/ die internationale, ein müder rock.“
Enzensberger, in die Jahre gekommen, verbreitet sich jüngst sparsamer („Zukunftsmusik“, der vorangegangene Band, erschien 1991), betrachtender, weisheitlicher. In den Kapiteln, benannt etwa „Belustigungen unter der Hirnschale“ oder „In der Schwebe“, findet sich manch Beschauliches: über einen russischen Abschied, New Yorker Alltäglichkeiten, tropische Abende in Thessaloniki oder den Geist des Vaters. Bei der Beobachtung einer Fliege, die derjenigen im Bernstein aufs Haar gleicht: „Wie ist sie zurückgekehrt,/ nach aberhundert Millionen/ Geschlechterfolgen?“
Die Landessprache von einst, wenn auch in der Gesamthaltung weniger zornig, ist nicht gänzlich verlernt. „Privilegierte Tatbestände“, das sarkastischste Stück dieser Sammlung: „Es ist insbeson-
Hans Magnus Enzensberger: Kiosk. Neue Gedichte. Suhrkamp Verlag Frankfurt/ Main. 136 S., geb., 34 DM.
dere auch Jugendlichen, die angesichts mangelnder Freizeitangebote und in Unkenntnis der einschlägigen Bestimmungen sowie aufgrund von Orientierungsschwierigkeiten psychisch gefährdet sind, nicht gestattet, Personen ohne Ansehen der Person in Brand zu stecken...“ Da heißt es über „Die Reichen“- „Wo sie nur immer wieder herkommen,/ diese üppigen Horden! Nach jedem Debakel/ sind sie neu aus den Ruinen gekrochen.“ Und über Armut: „Sie fällt auf durch Allgegenwart. Es ist, als wäre sie ewig.“
Die grellen Widersprüche dieser Zeit, da allerorten Funktionseliten krabbeln und kratzen, nach oben drängen, absahnen, unterschlagen. Eine
bittere Durchsicht: „Der Fortschritt zappelt in der Warteschleife.“ Fast agitatorisch die Nachfrage: „Bewegst du dich,/ oder wirst du bewegt?“ Der Krieg „zirpt wie das Videospiel auf der Diskette des Schülers/ Er funkelt wie der Chip im Rechenzentrum der Bank// Er breitet sich aus wie die Lache hinter dem Schlachthof.“
„Gedankenflucht“, ein längeres Gedicht, dessen einzelne Teile sich durch den gesamten Band ziehen, resümiert: „Im Flutlicht/ hinter Absperrungen,/ die Spastiker der Macht/ über Karten gebeugt./ Dann ein neuer Schlagfluß der Geschichte,/ und es geht wieder los...// Traumurlaub oder Panik, jedenfalls Pulks, Karawanen...“ „Das somnambule Ohr“ des Alternden, der nicht einschlafen kann, vernimmt zu menschenleerer Stunde gleich nebenan: „Diese Schüsse, kommen sie aus einem Film/ den niemand sieht, oder stirbt da einer im Treppenhaus?“
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