Bei Hoechst kehrt jetzt ein eiserner Besen
Management agiert nach Motto: Rendite um jeden Preis / Traditionen bröckeln, das Wir-Gefühl ist passe Von MICHAELA BOEHM
„Rotfabrik - all mei Glick“, dieser Leitsatz der Leute von Hoechst mit jahrzehntelanger Gültigkeit ist passe. Traditionen im weltweit zweitgrößten Chemieunternehmen bröckeln. Die Loyalität der Arbeitnehmer ebenfalls. Im Werk kehrt ein eiserner Besen, der auch einen Namen hat: Jürgen Dormann, Manager des Jahres 1995. Und ein Gespenst geht um, das Gespenst der Rendite um jeden Preis.
Fast alle leben sie von der Chemiefabrik, die mit ihren Werksmauern weit in den Westen Frankfurts am Main hineinstößt. Entweder einer verdient seine Brötchen direkt bei Hoechst, oder die umliegenden Kneipen, Bäckereien, Pizzerien leben vornehmlich von den „Farbwerkern“. Frankfurts größter Einzel-Arbeitgeber und einer der wichtigsten Gewerbesteuerzahler konnte sich auf Loyalität verlassen. Zu verlockend sind die Vergünstigungen. Lang war es Tradition: Der Großvater schafft bei den Farbwerken, der Vater schafft bei den Farbwerken, der Sohn ebenfalls. Doch die Tradition kriegt Brüche.
Ein Rotfabriker - benannt nach einem roten Farbstoff aus der Produktion - hat Privilegien. 11,9 Prozent Beitrag für die Betriebskrankenkasse. Zinsgünstige Arbeitgeberdarlehen für Häuslebauer. Eine zusätzliche Rentenversicherung (Pensionskasse), zu gleichen Teilen zwischen 1,5 bis 2,5 Prozent des Einkommens von Arbeitnehmern und von Hoechst eingezahlt. Zum Zins-
satz von 6,5 Prozent gibt's Darlehen. Die „Kolonie Zeilsheim“ mit 589 schnuckligen Häuschen beherbergt lauter Farbwerker. Die meisten haben das Haus ihrem Arbeitgeber zu einem Spottpreis abgekauft. „Hoechst Bauen und Wohnen“ hat im Rhein-Main-Gebiet 5250 Werkswohnungen. Rund 600 neue Behausungen sind im Bau. Durchschnittlicher Quadratmeterpreis: 8,50 Mark. Dafür gibt's in Frankfurt am Main sonst nur Bruchbuden.
Doch die Zeiten, als deshalb die Beschäftigten „wie ein Mann“ hinter dem Chemie-Multi standen, sind vorbei. Darin sind sich die beiden Betriebsratslisten „Forum“ und die „Durchschaubaren“ einig, die sich als Alternative zu dem von IG Chemie und DAG beherrschten Mehrheitsbetriebsrat verstehen. Schuld ist die neue Pille: Eine Rezeptur aus Outsourcing, Business Units, Zerstückelung des Unternehmens in viele kleine GmbHs und Co.KGs, Arbeitsplatzabbau und Demontage der Sozialleistungen.
Dormann sind die Sozialleistungen schlicht zu teuer, also macht er sie teuer. Ob die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge, die Aussetzung der Belegschaftsaktien mit Kursvorteil, die Anhebung der Mieten, Verkauf des Schwimmbads, das Schließen des werkseigenen Einkaufsladens - sukzessive höhlt der Konzern die Privilegien aus. Nur noch 89 Prozent des Lohns ist über Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen abgesichert. Der Rest ist die sogenannte individuelle Zulage, berechnet nach einem Beurteilssystem durch den Vorgesetzten. Auch das erhöht die Verbundenheit.
Einer aus der mittleren Hierarchiestufe, der nicht genannt werden will: Nach rund 25 Jahren hat der Mann seinen Vorruhestand beantragt, mit 55 ist Schluß. „Ich habe damals angefangen bei einem guten, sozialen Arbeitgeber, der sich vor seine Leute stellt. Meinen Kindern würde ich das heute nicht mehr empfehlen. Das Wir-Gefühl ist hin.“ Verantwortung werde mit großem Druck vom Spitzenmanagement auf die mittlere Ebene verlagert, bei gleichzeitigem Personalabbau. Den Kopf hinhalten - ja, aber „bei Dormanns Monopoly dürfen wir nicht mitreden“
Der Arbeitsplatzabbau im Stammwerk in Frankfurt-Höchst vollzieht sich in großen Schritten. 1993 waren's noch
26 900 Beschäftigte, 1995 noch 21 960. Im Geschäftsbericht von Hoechst 1994 heißt es: „Von 1992 bis 1994 haben wir durch Strukturmaßnahmen im Konzern 22 000 Stellen eingespart.“ Der Stand Ende des vergangenen Jahres: 165 671 Mitarbeiter.
Stellenstreichungen finden vor allem durch Vorruhestand statt. Von 1991 bis 1995 sind innerhalb der AG 11100 Leute in Ruhestand geschickt worden. Allein das Unternehmen entscheidet, wen es loswerden will. Ab 55 Jahren, behauptet Hoechst. Betriebsräte wissen jedoch von Namenslisten mit Vorruhestandsanwärtern ab Jahrgang 1943. „Hoechst will die Leistungsfähigen gewinnen und die anderen loswerden“, sagt Betriebsrat Knut Riedel von den „Durchschaubaren“. Das Pikante dabei: Hoechst rationalisiert auf Kosten der Sozialversicherung. Geht der 57jährige in den Vorruhestand, ist er arbeitslos und bezieht Arbeitslosengeld, auf das Hoechst soviel draufsattelt, daß er bis zu 90 Prozent seines Nettoeinkommens behält. Mit 60 Jahren läuft sein Arbeitslosengeld aus, er geht in Rente. Wer Arbeitslosenversicherung zahlt, bezahlt damit auch großzügig den Personalabbau bei den Farbwerken.
Statt Loyalität durch Sozialleistungen und Wir-Gefühl nun der Kampf um die Köpfe. Denn den massenhaften Loyalitäts-
verlust kann sich auch der Chemiemulti nicht leisten. Business units lautet das Zauberwort, dahinter steht mehr Teamarbeit, mehr Selbständigkeit, volle Verantwortung für Gewinne und Verluste.
Mit Dormann hat Hoechst seinen Gewinn 1995 innerhalb von neun Monaten auf 3,4 Milliarden Mark (vor Steuern) verdoppelt, ein Rekordprofit. Schon 1994 stieg der Gewinn um 55 Prozent auf 1363 Millionen. Dormann „bereinigt“: Weg mit den Kosmetikklitschen wie Jade, Schwarzkopf, Marbert, weg mit Uhde, BK Ladenburg, mit Ceramtec, Riedeide Haen - alle wurden abgestoßen. Vor dem Ausverkauf, der oft auch den Verlust vieler Privilegien des Konzerns bedeutet, ist auch in florierenden Unternehmen keiner mehr sicher: Jade machte zuletzt 13 Millionen DM Gewinn nach Steuern, Uhde 18 Millionen. Für 7,1 Milliarden Dollar kauft Hoechst statt dessen den USamerikanischen Pharmabetrieb Marion Merreil Dow
„Im Unternehmen regiert die Angst unter den jungen Kollegen“, sagt der Vorruheständler. „Früher war der Arbeitsplatz sicher, sofern einer keine silbernen Löffel geklaut hat.“ Doch heute dominiere eine „brutale Generation von Aufsteigern“ Solchen Kahlschlag wie unter Dormann habe es in der ganzen Hoechst-Geschichte noch nicht gegeben.
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