Wer erpreßt eigentlich wen?
Vogel-Prozeß Offenbar stehen der prominente Ex-Anwalt und ein MfS-General a. D. auch wegen des schlechten Gewissens von sechs Bundesregierungen über den »Freikauf« von DDR-Bürgern vor Gericht
Von Claus Dümde
»Auf welcher Seite stand er?« Hat die Antwort auf diese Frage zu Prof. Dr. h. c. Wolfgang Vogel Bedeutung für die Anklage gegen ihn und Ex-MfS-Generalmajor Dr. Gerhard Niebling, sie hätten ausreisewillige DDR-Bürger erpreßt? Für Oberstaatsanwalt Brocher offenbar.
Staatssekretär a. D. Ludwig Rehlinger, der vor der Sommerpause im Prozeß gegen Vogel und Niebling als Zeuge vor der 6. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin geladen war, ignorierte die Frage einfach. »Wir mußten mit dem verhandeln, den uns die DDR vorgesetzt hat«, sagte er. Jeder, der das System der DDR kannte, habe ja gewußt, daß über Ausreisen »ganz oben« entschieden wurde. Vogel habe offenbar einen »kurzen Weg zu Honecker« gehabt«. Rehlinger attestierte Vogel »eine Art Mittlerfunktion« und fügte hinzu: »Er zeigte sich für Wünsche unserer Seite sehr aufgeschlossen.« Zuvor hatte der letzte zuständige Re-
feratsleiter im Ministerium für innerdeutsche Fragen, Lothar Plewa, vor Gericht schnoddrig erklärt: »Im Geschäft mit der DDR war Redlichkeit nicht angesagt.«
Das war wohl so. Obwohl sich seit Adenauer sechs Bundesregierungen gezwungen sahen, sich mit der DDR zu arrangieren. Anfangs setzte Bonn freilich auf einen »Zusammenbruch der Ostzone«. Da war jedes Mittel recht. Wirtschaftsblockade wie Sabotage. Die DDR reagierte mit drakonischen Strafen, selbst gegen nur vermeintliche Gegner Von Mitte der 50er Jahre an, so Rehlinger, habe sich die Bundesregierung verpflichtet gefühlt, etwas für politische Häftlinge in der DDR zu tun. Da sie aber offizielle Kontakte scheute, betraute sie ein Anwaltsbüro in Westberlin damit, das »Korrespondenzanwälte« in der DDR beauftragte - und honorierte. Vogel gehörte dazu.
Als am 13. August 1961 die Grenzen der DDR dichtgemacht wurden, waren Tausende Kinder von ihren in den Westen gegangenen Eltern getrennt. Im Auftrag des Westberliner Senats bemühte sich Rechtsanwalt Jürgen Stange um Familienzusammenführung. Die DDR präsen-
tierte Vogel als Verhandlungspartner. Danach wurde Stange von der Bundesregierung beauftragt, sich darum zu bemühen, daß politische Häftlinge in der DDR freikommen. Wieder verhandelte er mit Vogel, aber auch mit DDR-Generalstaatsanwalt Streit und einem »Herrn Krügler« vom MfS, der in Wirklichkeit Dr Heinz Volpert hieß. Stange zufolge kam man sich bald näher, duzte und besuchte sich privat.
Im November 1963 erfolgte laut Stange die »erste größere Freilassung«. Gegen Geld. Der Bundesregierung war das nicht recht. Deshalb wurde vereinbart, daß die DDR künftig über auf ein Konto des Diakonischen Werks überwiesene Mittel für Warenkäufe verfügen kann. Dennoch brachte Stange auch später Bargeld in Berlin über die Grenze, übergab es Volpert oder Vogel: Um die Ausreise von Verwandten aus der DDR zu erreichen, boten Leute im Westen Geld an. Stange behauptete, er habe das in jedem Fall dem zuständigen Bonner Staatssekretär vorgetragen. Und wenn der zugestimmt habe, sei die Zahlung erfolgt.
Rehlinger konnte sich konkret nur an zwei Fälle erinnern: Ein Bundestagsab-
geordneter habe an ihn gewandt. Und eine alte, sehr reiche Dame wollte 250 000 DM zahlen, um einer entfernten Verwandten, die sie pflegen sollte, die Ausreise zu ermöglichen. »Ein goldener Esel übersteigt jede Mauer«, sagte der Ex-Staatssekretär Die DDR habe diese Praxis ohne moralische Skrupel betrieben. Für ihn sei das unerträglich gewesen: der Reiche kommt raus, der Arme nicht. Dennoch habe er Vogel vergeblich gebeten, daß man diese Praxis aufgibt. Bonn nahm es hin.
Wegen solchen »Geldfällen« sowie etlichen »Häuserfällen«, in denen Ausreisewillige über Vogel ihre Immobilien in der DDR an Privilegierte verkauften oder gar verschenkten, stehen nun der einstige Anwalt und Niebling, der letzte Leiter der 1975 im MfS zur Zurückdrängung von Ausreiseanträgen geschaffenen »Zentralen Koordinierungsgruppe« (ZKG) vor Gericht. Die Anklage wirft ihnen Erpressung vor Vogel und Volpert sollen zu einem »Zeitpunkt vor 1969« übereingekommen sein, DDR-Bürgern »die Ausreise gegen die Hergabe erheblicher Vermögenswerte zu ermöglichen«. Die jeweiligen ZKG-Chefs, ab 1983 Niebling, seien diesem »Tatplan« beigetreten.
Beweise dafür hat die Staatsanwaltschaft offenkundig nicht. Nicht zuletzt deshalb bemüht man sich wohl, Vogel in der Hauptverhandlung als MfS-Mann zu präsentieren, der »maßgeblichen Einfluß« daraufhatte, wer ausreisen durfte.
Ob Vogel »Pauschalhonorare« erhielt oder, wie Rehlinger jetzt sagte, nur Ersatz für Aufwendungen von Vogels Kanzlei, dürfte nur für ein anhängiges Verfahrens wegen Steuerhinterziehung gegen den Ex-Anwalt relevant sein. Jetzt dienen die für DDR-Verhältnisse märchenhaften Summen, von denen gemunkelt wird, wohl primär dazu, ihn in ein Zwielicht zu stellen. Dazu paßt auch die Zeugenladung jenes Ex-DDR-Militärstaatsanwalts Frank Michallak, der 1992 ausgesagt hatte, er habe im November 1989 im Büro von MfS-Chef Mielke eine »IM-Akte >Georg<« über Vogel, die 1956 oder 1957 begann und bis zum Ende der 80er Jahre reichte, sowie zahlreiche von Vogel unterzeichnete Quittungen über große Beträge in DDR- und D-Mark sichergestellt.
Merkwürdig: Jetzt konnte sich Michallak an nichts mehr erinnern. Und auch jene Dokumente scheinen nicht greifbar Da eröffnet sich für Spekulationen ein weites Feld: Wird vielleicht noch heute in Sachen Ausreisen erpreßt?
Vogel war auch im zweiten Prozeß gegen ihn recht aufgeregt, Niebling hingegen die Ruhe selbst. Verständlich. Ihm kann niemand vorwerfen, sich bereichert zu haben. Aus dem kleinen Häuschen, in dem er - zur Miete - wohnte, flog er nach der Wende per »Rückübertragung« raus.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.