Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Politik
  • Mit Daniel Jonah Goldhagen sprach Katia Davis für ND über sein Buch »Hitlers willige Vollstrecker«

»Da hat nicht Hitler einfach nur den Schalter angeknipst«

  • Lesedauer: 10 Min.

Daniel Jonah Goldhagen: »Faire Streitgespräche erwartet«

Foto: JD Sloan

Unterwegs ms Gas. Was war passiert, daß Menschen andere Menschen auf solche Weise quälten?

Foto: Zambon Verlag

Goldhagen und die Deutschen - das ist ein internationales Medienthema seit Erscheinen des Buches über den Holocaust und die Umstände, die ihn ermöglichten, in den USA. Unsere Reporterin interessierte, wie der amerikanische Sozialwissenschaftler selbst über die Aufnahme seines analytischen Werkes denkt und traf sich mit ihm in Cambridge, Massachusetts, zu einem Gespräch.

? Finden Sie die bisherige Kritik an Ihrem Buch in Deutschland von Nutzen?

Welche Kritik? Vier Monate vor Erscheinen der deutschen Ausgabe begannen die Publikationen in Deutschland mit einer Flut wütender Beiträge über sogenannte Fakten und Behauptungen in meinem Buch. Die Autoren schrieben jedoch im Grunde gar nicht über meinen Text. Abgesehen von Lügen, Verunglimpfungen und persönlichen Angriffen gab es in dieser Zeit so gut wie keine wirkliche Besprechung oder ernsthafte Analyse, die auf den zentralen Inhalt der vorgelegten Arbeit einging. Ebensowenig ging man auf meine im Buch bewußt offen dargelegte Forschungsmethodologie, auf Ergebnisse, Interpretationen und Schlußfolgerungen ein. Ich hatte eine Diskussion über all diese Dinge erwartet sowie faire wissenschaftliche Streitgespräche. Sicher gibt es interessante kritische Punkte, die doch der Lösung eines Problems nur nutzen können - solange man beim Material, den Fakten und vor allem dem Kern und Ziel einer Forschungsarbeit bleibt. Die vermeintlich kritische Polemik hatte höchstens die Verwirrung des künftigen Lesers zum Ziel.

? Inzwischen ist das Buch auch in Deutschland auf dem Markt.

Seitdem scheint sich der Ton zu ändern. Vor allem die jüngere Generation ist an einer ehrlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit interessiert, um Antworten auf die bisher ungelösten Fragen nach den Gründen für den Holocaust zu finden.

? Was vermissen Sie in der bisherigen Holocaust-Forschung?

Gab es denn wirklich befriedigende Erklärungen für den Horror und für die Beteiligung der Menschen an den Verbrechen im Holocaust? In den meisten Forschungsarbeiten nicht - zu sehr konzentrierte man sich da allein auf die abstrakten Organisationssysteme. Oft hat man erst mit dem Jahr 1941 und der Ausrottungsmaschinerie in einer Form begonnen, als hätten die Ereignisse irgendwo außerhalb deutscher Geschichte und deutscher Gesellschaft stattgefunden. Man begnügte sich damit, zu erklären, wie Hitler an die Macht kam. Aber wo ist die Untersuchung der historischen Umstände, die in Deutschland jenes Denken hervorbrachten, das erst die Machtübernahme der Nazis ermöglichte und sie auch gleich so erfolgreich machte? Wo ist die Frage nach der Verantwortung des Individuums, der Zahl der einzelnen Täter und ihrer Motivation? Der zu Entscheidungen fähige Mensch blieb weitgehend unbeachtet. Dieses Herangehen ist ahistorisch.

? Ist das Ihr zentrales Thema - der Einzelne und seine Verantwortung?

Ja, es geht um individuelle Verantwortung und die Erforschung der Täter und ihrer Motivation. Die Täter waren gewöhnliche Deutsche und kamen aus den verschiedensten sozialen Schichten. Meine Untersuchungen zeigen an vielen Fallbeispielen, daß die Zahl der Beteiligten an Verbrechen wesentlich höher war als zumeist angenommen. Hunderttausende Menschen. Doch spreche ich nicht von Kollektivschuld - diesen Begriff lehne ich mit aller Entschiedenheit ab. Die individuelle Schuld steht im Mittelpunkt. Die Identität der Täter, ihr familiärer Hintergrund, die Details ihrer Aktionen, ihre Motive und Denkweisen sind der Kern meiner Forschung. Als Sozialwissenschaftler untersuche ich die Verhaltensmuster. Denn den Holocaust kann man nicht nur mit der Perfektion und den brutalen Unterdrückungsmechanismen des Regimes und dem daraus folgenden oder angenommenen Befehlsnotstand erklären. Da hat nicht Hitler einfach nur den Schalter angeknipst und man folgte ihm. Wir müssen die Wissenslücken schließen

und mehr über die Menschen erfahren. Diesen Versuch habe ich erstmalig unternommen.

? Ein weites Feld, würde man in Deutschland dazu sagen, wie sind Sie dabei vorgegangen?

Ich biete keine monokausale Erklärung für den Holocaust. Ich sehe nicht nur den Antisemitismus als Grund. Drei grundsätzliche Punkte wird man in meinem Buch finden, die diese Thematik behandeln: 1. Die geopolitische Situation -Deutschland als einzigartige militärische Macht mit der Möglichkeit der Eroberung Europas und der gleichzeitigen Ausrottung der Juden auf dem gesamten Kontinent. 2. Der eliminatorische Antisemitismus - historisch und in der damaligen deutschen Gesellschaft weit verbreitet. 3. Die Machtübernahme eines mörderischen Nazi-Regimes, das zur praktischen Umsetzung seiner Phantasien und der schon lange vorher publizierten Vernichtungspläne entschlossen war Während ich verschiedene historische Gründe für den Holocaust in Deutschland aufzeige oder zumindest berühre, halte ich jedoch vergleichende Analysen mit dem Antisemitismus in anderen Ländern im Rahmen dieses Buches nicht für notwendig. Der Holocaust kam aus Deutschland und spezielle, nicht voneinander zu trennende komplexe Bedingungen konnten nur hier zu seinem Entstehen führen.

? Ein Kritiker brachte es fertig, Ihre Schilderung von Fakten über das Zusammentreiben der Juden, das Quälen

der hilflosen Opfer und Details über das Töten pornographisch zu nennen. Weshalb hielten Sie solche Tatsachen für unerläßlich?

Um zu verstehen, warum Menschen solche Taten begangen haben, muß man wirklich genau ihre Aktionen auswerten und sich sozusagen in ihre Lage versetzen. Man muß die richtigen Fragen stellen: Was war nötig, was mußte mit ihm passieren, damit ein Mensch andere Menschen in jener Weise quälte und tötete.. . . - f «

? Sie zweifeln ah der häufig vorgebrachten Erklärung, daß die Menschen zumeist unter unausweichlichem Zwang handelten?

Die Täter wußten, daß sie nicht töten mußten. Ihre Vorgesetzten hatten das klargestellt. Die Täter beteiligten sich freiwillig an den unnötigen Quälereien und Morden. Das sind sehr beunruhigende und schmerzhafte Tatsachen. Aber ich lege absolut neues Beweismaterial vor. Darunter sind nicht nur Prozeßaussagen, sondern vor allem zahlreiche Briefe an Familienmitglieder, Freunde, Nachbarn sowie Fotos von entwürdigenden Handlungen an Juden oder gar Mordszenen fürs Familienalbum und zahlreiches anderes Material. Das zeigt deutlich das Fehlen jedes äußeren Zwanges. Meine genaue Untersuchung der Motivationen und der vorher vorhandenen Denkmuster und Überzeugungen belegen die individuelle Verantwortung der Täter.

In diesem Zusammenhang gehe ich im ersten Teil des Buches ausführlich auf

die Wurzeln und die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland insbesondere seit dem letzten Jahrhundert ein, ohne andere wichtige historische Ereignisse und Entwicklungen unerwähnt zu lassen. Ich halte mich an einen notwendigen Rahmen, um zum Kern des Buches führen zu können.

? Viel Raum widmen Sie den in der Holocaust-Forschung vernachlässigten dreißiger Jahren, als scheinbar noch wenig von Judenverfolgung zu hören war. Sind Sie dabei zu neuen Erkenntnissen gekommen?

Ich bin zu der nicht unwesentlichen Erkenntnis gelangt, daß die Verfolgung der Juden sofort nach der Machtübernahme der Nazis ausgesprochen radikal war. 500 000 Bürger jüdischer Herkunft wurden ihrer Staatsbürgerrechte beraubt, durften keine Nicht-Juden mehr heiraten, erhielten systematisch Berufsverbote und wurden einer ungeheuer intensiven Kampagne verbaler Gewalt ausgesetzt - unvergleichlich in der westlichen Geschichte. Gleichzeitig begannen schon vereinzelte physische Übergriffe. Das alles geschah in völliger Offenheit. Sehr viele Deutsche nahmen aktiv an diesen Unterdrückungsmaßnahmen teil, akzeptierten sie nicht nur, sondern begrüßten und unterstützten sie in aller Öffentlichkeit. Die Verfolgung der deutschen Juden war allen Bürgern bekannt. Wir wissen, was in den vierziger Jahren passierte. Doch die Geschichte der drei-ßiger Jahre ist im Schatten des Holocaust selbst verloren gegangen. Wären die Massenmorde des Holocaust nicht geschehen, würden wir trotzdem auf diesen Zeitraum zurückblicken als Periode einer der furchtbarsten und radikalsten Verfolgungen der europäischen Geschichte. Was ist in den dreißiger Jahren passiert? Was dachten und taten die Menschen? Die Suche nach der Antwort istj,eines der Hauptziele meines; Bucnes. .,

? Was halten Sie von dem Vorwurf einiger Kritiker, daß Ihre Erklärungen zu vereinfachend seien?

Nicht alles ist so kompliziert, wie es manchmal scheint. Ich untersuchte ausführlich über 35 Polizeibataillone, alle der 18 Einsatzkommandos, verschiedene Konzentrationslager und Ghettos, Arbeitslager sowie Todeslager und schließlich 12 Todesmärsche. Fast alle dieser Untersuchungsgegenstände sind in der Forschung im wesentlichen unbeachtet geblieben - ebenso vernachlässigt wie die Täter. Gerade in den Polizeibataillonen aber befanden sich gewöhnliche Deutsche. Ihre Mordlust ist nicht so einfach mit niederem kriminellem Instinkt oder Befehlsnotstand zu erklären. Ich habe all diese unterschiedlichen Institutionen gewählt, um bei der Untersuchung der Täter und ihrer Motivation eine Vergleichsmöglichkeit zu schaffen und verschiedene Perspektiven zu erschließen. Außerdem beschreibe ich, daß es der auch in ande-

ren europäischen Ländern vorhandene Antisemitismus so einfach machte, bereitwillige Helfer bei der Ausrottung der Juden zu finden. Und schließlich biete ich am Ende des Buches eingehende Schlußfolgerungen und Interpretationen, die sich aus der Analyse der vorgestellten Materialien und Untersuchungen ergeben. Wir müssen an den Holocaust genauso wissenschaftlich herangehen wie an andere historische Ereignisse und ihn nicht als Ausnahme betrachten. Er ist erklärhar.

? Glauben Sie, daß Ihr Buch das künftige wissenschaftliche Herangehen beeinflussen kann?

Ich hoffe, daß mein Konzept diskutiert und als wichtige Methode angenommen wird. In den Schriften der Sozialwissenschaften kommt der Mensch leider oft zu kurz. Die Menschen werden einfach als willenlose Werkzeuge historischer Kräfte und über ihnen stehender Mächte behandelt. Sie werden nicht als Entscheidungen treffende menschliche Wesen betrachtet.

Ich hoffe ferner, daß die Menschen mein Buch lesen und darüber nachdenken. Daß es ihr Denken über die Welt, in der sie leben, beeinflußt. Menschen hatten und haben die Möglichkeit zu eigenen Entscheidungen. Das gilt für die Zeit des Holocaust und generell für jeden anderen Zeitraum. Es klingt wie ein Klischee, ich weiß, aber wir sind alle verantwortlich für unsere Handlungen. Das Buch ist ein Plädoyer dafür, das zu begreifen.

? Iragt Ihres Er achtens das Buch auch zum Verständnis anderer Genozide bei, zum Beispiel des Völkermords im ehemaligen Jugoslawien oder in Ruanda?

Es handelt sich hier um andere Gruppen, andere Gründe und andere historische Umstände als in Deutschland. Doch sollten sie alle in nüchterner sozialwissenschaftlicher Art und mit dem Versuch einer Erklärung analysiert werden: Wie fanden diese Ereignisse statt? Dabei sollte man Ähnlichkeiten und Unterschiede der verschiedenen Genozide heranziehen. Genozid ist nicht nur ein spezielles deutsches Problem, aber in Deutschland wird die gegenwärtige Diskussion sicher dazu führen, daß mehr Menschen genauer nach der Rolle ihrer Eltern oder Großeltern während der Nazizeit fragen werden. Und das ist wichtig in einem in dem man doch so oft hörte: Wir jeja nichtsjg€|wußt, wir haben nichts getan.

? Wie bewerten Sie die Rolle der Menschen, die dem Naziregime Widerstand boten oder sich durch Hilfeleistungen für Verfolgte widersetzten?

Natürlich gab es Menschen, die aus verschiedenen Gründen gegen das Regime waren, es bekämpften. Manche waren gegen die Verfolgung der Juden, manche halfen Juden. Oft waren es sogar ihre Nachbarn. Aber es war eine Minderheit in Deutschland. Ich habe den Widerstand in meinem Buch erwähnt. Ausführlich darauf einzugehen, hätte aber seinen Rahmen gesprengt und vom Kern abgelenkt. Diese Menschen dürfen jedoch nicht vergessen werden, sie verdienen Anerkennung und Würdigung.

? Im Zusammenhang mit ihrem Buch wird viel über das heutige Deutschland diskutiert. Betrachten Sie das auch als Ablenkung von Ihrem Anliegen?

Ich spreche gern über das gegenwartige Deutschland. Doch das hat nichts mit meinem Buch zu tun. Natürlich hat die totale Konzentration auf heutige Probleme vom Thema weggeführt. Das gilt auch für Vorwürfe, daß ich nicht über die Bedeutung der Klassenkämpfe oder nicht ausführlich genug über die Weimarer Republik geschrieben habe. Die Kritiker übersehen augenscheinlich, daß eine breite Analyse dieser Gegenstände für mein Hauptziel und zentrales Thema nicht nötig war. Ich habe über die Verfolgung von Andersdenkenden wie Kommunisten und Sozialdemokraten, die nach der Machtübernahme der Nazis sofort begann, sowie über die Verfolgung bestimmter Glaubensgruppen und Minderheiten und über das Euthanasieprogramm geschrieben und das alles übrigens auch einer vergleichenden Analyse mit der Judenverfolgung unterzogen. Aber das Buch ist eine Untersuchung über die Täter und ihre Motivation mit neuem empirischem Material - erstmalig in dieser Form. Es gründet sich auf die Suche nach einer Erklärung, wie es in Deutschland bereits in den dreißiger Jahren und dann während des Holocaust zu solch einer breiten Akzeptanz der Judenverfolgung und Judenvernichtung kommen konnte.

Das sind auch die bohrenden Fragen, die die jüngere Generation beschäftigen. Und die ist in der Mehrheit äußerst wachsam und gewillt, eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern. Ich bin überzeugt: Eliminatorischer Antisemitismus und Rassismus haben im heutigen demokratischen Deutschland keine Chance.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -