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  • Politik
  • Ossip Mandelstam verfaßte in der Verbannung seine letzten Gedichte

»Nur ein Nadelöhr Meer!«

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Ossip Mandelstam, der gemeinsam mit Nikolaj Gumiljow und Anna Achmatowa die Poesie nicht nur vom »Himmel« des Symbolismus auf die »Erde« zurückholte, sondern auch gegen den Kahlschlag der Futuristen verteidigte, gab der russischen Dichtung jene organische Einheit von Laut und Sinn zurück, die er seit frühester Jugend an Bachs Musik bewundert hatte. Der Sohn eines jüdischen Lederhändlers, der sich als Fünfzehnjähriger für Kautskys »Erfurter Programm« interessierte und im Mai 1918 in einem Gedicht die »Dämmerung der Freiheit« begrüßte, glaubte an die erneuernde Kraft der Revolution. Doch die radikale Umwertung der Werte des christlich-jüdischen wie des gesamten weltkulturellen Erbes durch Kulturpolitik und Literaturkritik verunsicherte den Dichter Nach zwei Lyrikbänden folgte von 1925 bis 1930 eine Periode, in

der Mandelstam keine Gedichte mehr schrieb. Der Selbstverständigung, diente jetzt die Prosa (»Das Rauschen der Zeit«). Erst nach der durch Bucharin erwirkten Armenienreise brach der Lyriker sein fünfjähriges Schweigen. Die »Moskauer Hefte«, Gedichte 1930-1934, wurden in dem Band »Mitternacht in Moskau« zu-, sammengefaßt.

In den »Woronescher Heften« tritt uns bereits ein anderer Mandelstam entgegen. Im Frühjahr 1933 hatte er sich provokativ als »Zeitgenosse Achmatowas« bekannt und »Sehnsucht nach Weltkultur« proklamiert, im Herbst ein Epigramm auf Stalin geschrieben (»Seine dicken Finger sind fettig wie Würmer,/ Seine Worte wahr wie pudschwere Hanteln...«). Die Reportage »Reise nach Armenien« (1933), in der er die »Lebensfülle der Armenier« und »ihre unerklärliche Abneigung gegen jede Metaphysik« lobt, wurde in der »Prawda« heftig angegriffen. Im Mai 1934 ließ Jagoda den Dichter verhaften und für drei Jahre in

den Ural verbannen. Nach einem Selbstmordversuch durfte Mandelstam einen anderen Verbannungsort wählen. Er entschied sich für Woronesch, wo er von Juni 1934 bis Mai 1937 lebte. Hier entstanden die über hundert Gedichte der »Woronescher Hefte«. Konnte ihn Anna Achmatowa im Februar 1936 noch besuchen, verschlechterten sich Ende des Jahres die Lebensbedingungen Mandelstams und seiner Frau radikal. Als »Trotzkist« und »Klassenfeind« geschmäht, bekam er seine Rechtlosigkeit überall zu spüren. In »Schwarzerde« (April 1935) pries er noch den »weiten Raum«, griff auf den aus frühen Gedichten bekannten Vergleich vom »Pflügen« und »Sprechen« zurück, berauschte sich an der kühnen Metapher von seiner »Freiheitserde«. Zwei Jahre später lag selbst über einem Liebesgedicht wie »Die leere Erde unwillkürlich rührend...« tiefe Trauer, auch wenn das zyklische Weltbild (»denn alles wird auf immer neu beginnen«) die Todesahnungen zurückdrängt.

Die letzten Gedichte Mandelstams lassen Themen seines Gesamtwerks noch einmal Revue passieren. Dominierend bleibt die Sehnsucht nach dem Hereinholen der Weltkultur in den russisch-jüdischen Erfahrungsraum. Aischylos und Sophokles, Dante, Villon und Goethe, Michelangelo, Raffael und Leonardo da Vinci, Rembrandt und Breughel, Chopin und Schumann sind in den Texten präsent. Nicht weniger groß bleibt die Sehnsucht nach dem »providentiellen Gesprächspartner«, den Mandelstam bereits in einem Essay von 1913 und erneut in dem »Gespräch über Dante« (1933) als unerläßliche Voraussetzung für seine »Lyrik des Dialogs« bezeichnet hat. »Der Januar... Wo kann ich nun noch leben?« fängt ein beklemmendes Gedicht von 1937 an, das die Angst und Einsamkeit des Verbannten artikuliert und mit den Worten endet: »Nur einen Leser möchte ich! Einen Helfer! Arzt! / Auf Dornentreppen: ein Gespräch! Was gab ich her...«. Beide Themenkreise aber werden von existentiellen Grundfragen überlagert. „Ich muß nun leben, war schon zweifach tot«, schreibt der Dichter im April 1935. Kurz daraufläßt der Bezug auf Puschkins Freiheitsgedicht »An das Meer« erkennen, wie eng der Bewegungsspielraum Mandelstams ist: „Nur ein Stück blaues Meer möcht ich nun, nur ein Nadelöhr Meer!«

Einige Gedichte zeigen Mandelstams Schwanken zwischen Resignation und Hoffnung, auch die Widersprüchlichkeit seiner Haltung gegenüber Stalin, seine Suche nach einem Kompromiß mit der Sowjetmacht. In diesem Kontext entsteht im Januar 1937 auch die »Stalin-Ode«, die von der Mandelstam-Forschung gegensätzlich interpretiert wird - als Ausdruck der geistigen Kapitulation vor der Gewaltherrschaft, aber auch als raffiniert getarnter Angriff auf den Führerkult. Nadeshda Mandelstam notiert in ihrer Autobiographie »Das Jahrhundert der Wölfe«, der Dichter habe sich, mit der Schlinge um den Hals, zu dieser Ode gezwungen, um sein Leben zu retten, sein Ziel jedoch nicht erreicht, weil er gegen die innere Überzeugung schrieb.

Nach dem Ende der Woronescher Verbannungsjahre erhielt Mandelstam in Moskau kein Wohnrecht. Ein Jahr später wurde er in einem Sanatorium verhaftet und zu fünf Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Schwerkrank und halbverhungert starb er am 27 Dezember 1938 in einem Lager bei Wladiwostok.

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