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  • Politik
  • Manfred von Ardenne wird 90 Jahre alt

»Effis« Enkel - ein Romantiker der Wissenschaft

  • Horst Hoffmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Ihr Großvater hat meinen Cousin im Duelle erschossen!« Mit diesen Worten wandte sich einst ein würdiger weißhaariger Herr auf einer Gesellschaft an Manfred Baron von Ardenne. Der Mann, der das sagte, war ein Vetter des Düsseldorfer Amtsgerichtsrates Emil Hartwich, der wegen seiner Liebesbeziehung zu Else von Ardenne, geborene von Plotho, von deren Gatten zum Duell gefordert worden war und an seiner Verwundung starb. Eine tragische Affäre, die Theodor Fontane zu seinem Meisterwerk »Effi Briest« inspirierte. »Ich war ihr Lieblings-Enkel«, erzählte mir Professor von Ardenne. »Sie hinterließ mir die an sie gerichteten Liebesbriefe, die ich wie einen Schatz hüte - für unsere Familie und die Fontane-Forschung.«

Der am 20. Januar 1907 als Sohn eines Offiziers in Hamburg geborene Manfred Baron von Ardenne ist der Sproß einer alten Adelsfamilie, deren Zweige bis in das gleichnamige belgische Gebirge reichen. Sein Urgroßvater Heinrich Freiherr von Ohlendorff war mit Bismarck befreundet 'und gründete zur Unterstützung für dessen Politik die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, die später Allgemeine Deutsche Zeitung hieß. Der erfolgreiche Hamburger Kaufmann gebot über eine eigene kleine Übersee-Handelsflotte.

Das Leben des Manfred von Ardenne überbrückt drei Jahrhunderte, lernte er doch noch Menschen kennen, die im vorigen Säkulum die modernen Naturwissenschaften begründeten, und wirkte auf jene ein, die im nächsten den Mars besiedeln werden. Sein Schicksal ist reich an Harmonien, die aus dem glücklichen Familienleben und der fruchtbaren For-

Foto: dpa

schertätigkeit erwuchsen; ebenso aber voller Widersprüche, die in Wissenschaft und Gesellschaft begründet sind. »Ich habe die Beschäftigung mit Wissenschaft und Technik immer als ein großes erregendes Abenteuer empfunden«, sagte Professor von Ardenne, der mir in den vergangenen vier Jährzehnten viele Interviews gab. »Um mit Bertolt Brecht zu sprechen, Denken war für mich stets das höchste Vergnügen. Aber auch Emotionen spielten eine große Rolle, insbesondere in der zeitlich meist begrenzten romantischen Phase, die jede Forschung in ihrer Jugendzeit durchläuft und in der sich oft von einem Tag zum anderen überraschende Ausblicke und unbekannte Möglichkeiten von großer Tragweite erschließen. Aber auch das Erken-

nen von neuen Gesetzmäßigkeiten und Wegen, das sich erst nach lange andauernden Bemühungen einstellt, kann im schöpferischen Menschen ein Hochgefühl auslösen.«

Manfred von Ardenne, einer der wohl letzten Universalgelehrten dieses Jahrhunderts, hat beide Arten des Forscherglücks erfahren. In den 20er und 30er Jahren gehörte er zu den jüngsten Pionieren der Rundfunk-, Fernseh- und Radartechnik. Mit 16 Jahren erhielt er sein erstes Patent und nahm mit einem selbstgebastelten Verstärker an den ersten Rundfunksendungen vor dem Reichspräsidenten Friedrich Ebert in Berlin teil. Mit 17 Jahren veröffentlichte er sein erstes Buch und erfand die Technik der elektronischen Schallplatten-Aufnahme.

Mit 21 Jahren gründete er in Berlin Lichterfelde-Ost ein Laboratorium für Elektronenphysik. 1930 gelang es dort erstmals, Fernsehbilder mit Hilfe selbstentwickelter Elektronenstrahlröhren zu übertragen. 1937 erfand er das Raster-Elektronenmikroskop. Gemeinsam mit Bodo von Borries (gestorben 1956) und Ernst Ruska, der 1986 dafür den Nobelpreis erhielt, gehört Manfred von Ardenne zu den Vätern der Elektronenmikroskopie. Sie wurden 1941 von der Berliner Akademie der Wissenschaften mit der Silbernen Leibniz-Medaille geehrt.

Seine Erfolge begründet Professor von Ardenne mit »einer ganz bestimmten Grundeinstellung, die ich allen jungen Menschen, auch meinen vier Kindern, die sich alle den Naturwissenschaften zuwandten, empfehle. Wenn ich etwas kennenlernte, so betrachtete ich es nie als endgültig abgeschlossen, sondern stets als verbesserbar Man sollte sich immer die Frage stellen: Wie kann ich weiter optimieren? Wer das tut, der wird schöpferisch tätig, findet immer wieder Neues und erlangt eine starke, kraftgebende innere Zufriedenheit«.

Drei Hauptperioden lassen sich im Schaffen des Manfred von Ardenne lokalisieren: In den »Berliner Jahren« von 1925 bis 1945 diente er vor allem der Elektronenphysik und gegen Ende auch der Kernphysik. Das »Suchumi-Jahrzehnt« von 1945 bis 1955 verbrachte der im Rahmen der Reparationsleistungen Deutschlands Zwangsverpflichtete in der UdSSR, wo er durch seine Arbeiten über industrielle Isotopentrennung zur Entwicklung der sowjetischen Atombombe und damit zum Patt zwischen den beiden Supermächten beitrug. Seit seiner Rückkehr folgten vier »Dresdner Dezennien«, in denen der »Rote Baron auf dem Wei-ßen Hirsch«, wie ihn die Regenbogen-

presse nannte, reiche Früchte für die Volkswirtschaft und das Gesundheitswesen einfuhr - darunter der Elektronenstrahl-Mehrkammerofen und der Plasma-Feinstrahlbrenner sowie die Krebs-Mehrschritt-Therapie und die Sauerstoff-Mehrschritt-Therapie bzw -Immunstimulation.

Der große Erfinder folgte dem Vorbild des italienischen Kernphysikers und Nobelpreisträgers Enrico Fermi, der forderte, daß ein Wissenschaftler sein Forschungsfeld alle zehn Jahre wechseln solle. »Anfang der 60er Jahre erfolgte bei mir sogar eine völlige Themenveränderung: mein Übergang von der physikalischen zur medizinischen Forschung«, erklärte mir Professor von Ardenne. ' Manche können offenbar nicht nachvollziehen, was der Grandseigneur der Hochtechnologie und dreifache Ehrendoktor der Naturwissenschaften, Medizin und Pädagogik wagte. Oder sie neiden ihm die mehr als 700 wissenschaftlichen Publikationen, darunter 34 Bücher, sowie über 600 Patente, die der im Sinne Einsteins »unermüdlich bastelnde und grübelnde« Forscher erwarb.

Manfred von Ardenne steht zu seinem humanistischen Engagement in der DDR. In seinem jüngsten Buch »Ich bin ihnen begegnet« berichtet er über sein privates Institut, das zur Wende über 500 Mitarbeiter zählte: »Die Förderung unserer Forschungen war zeitsparend und unbürokratisch.« Seiner Meinung nach war die 35jährige kontinuierliche Forschung an der Entwicklung der systematischen Krebs-Mehrschritt-Therapie »wohl nur unter DDR-Bedingungen möglich«. Der Verlust des Hauptkunden, der volkseigenen Industrie, der Fortfall der staatlichen Subventionen und der Berg von sieben Millionen Mark »Altschulden« haben das Institut hart getroffen. Doch Manfred von Ardenne, der während der großen Weltwirtschaftskrise einen Kredit von 150 000 Reichsmark bis auf den letzten Pfennig abzahlen mußte, kennt die Marktwirtschaft. Seine beiden neuen Firmen für Anlagetechnik und angewandte medizinische Forschung haben sich bisher behauptet. Nicht zuletzt dank des ungebrochenen Optimismus des Gründervaters und der Großfamilie derer von Ardenne, die allein auf dem Weißen Hirsch sechzehn Personen umfaßt.

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