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  • Kultur
  • WILHELM REICH WIRD 100

Der »Spinner« mit der Regenmaschine

  • Roger Behrens
  • Lesedauer: 3 Min.

Daß runde Geburtstage zum Anlaß genommen werden, einer aus der Mode gekommenen menschlichen Leistung noch einmal Anerkennung zu zollen, ist nichts besonderes. Diskussionen entflammen noch einmal, und aus dem Winkel kommt zuweilen der Feind von ehedem, der sich nun als Freund der ersten Stunde profiliert. Anders verhält es sich bei Wilhelm Reich (1897-1957). Anläßlich seines 100. Geburtstags am 24. März hat man sich wohl geeinigt, die Gelegenheit, sein Werk-erneut zu diskutieren, lieber nicht zu nutzen.

Reich endete in einer Nervenheilanstalt; seine Arbeiten wurden in den USA verboten. Die westdeutschen 68er entdeckten Reich: er propagierte immerhin schon vierzig Jahre zuvor die sexuelle Revolution. Gegen die »Reichisten«, wie sich einige nannten, wurde der Vorwurf der Pornographie vorgebracht. Wem

Harry Mullisch: Das sexuelle Bollwerk. Sinn und Wahnsinn von Wilhelm Reich. Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens. Hanser Verlag, München/Wien 1997 200 S., geb.. 36 DM.

dieser nicht genügte, der hatte schnell zur Hand, daß Reich sowieso verrückt war Ein Spinner, der z.B. glaubte, mit einer Maschine Regen machen zu können.

1919 war Reich mit dem Kreis um Sigmund Freud in Kontakt gekommen und hatte die Psychoanalyse kennengelernt. Bis heute hat diese um ihre Anerkennung als Wissenschaft zu kämpfen; auf Abweichler reagierte sie dementsprechend hart. Reich wurde schnell zum Abweichler, gerade weil er Freuds »Libidotheorie« (»sexuelle Lust«) ernst nahm. Reich arbeitete die Bedeutung der

Funktion des Orgasmus bzw die Dysfunktion als Ursache für Neurosen und Ängste des Menschen heraus. Während Freud sich auf das Gespräch konzentrierte, entwickelte Reich erstmals eine Form der Körpertherapie, weil sich schließlich im Körper psychische Störungen manifestieren. Zudem verband Reich seine Sexualökonomie mit dem Marxismus und arbeitete zur Massenpsychologie des Faschismus.

Schon 1973 hat Harry Mulisch seine jetzt ins Deutsche veröffentlichte Abhandlung'

»Das sexuelle Bollwerk« geschrieben. Neben einer autobiographischen Notiz, in der Mulisch seine Begegnung mit Reichs Theorie darlegt, beschreibt der Autor, wie die

Verabsolutierung der Sexualität zu einem »uneinnehmbaren Bollwerk« führte. Reich wurde zum aggressiven Antikommunisten; seine Theorie der »kosmischen Lebensenergie« stand am Scheideweg von Sinn und Wahnsinn; er tendierte zum biologistischen Okkultismus. Erst heute wird sich mit seinen Thesen der Bion-Strahlung, der Orgon-Energie auseinandergesetzt. Die

Weltgesundheitsorganisation führt in der »Geburtscharta« seit 1985 Grundsätze zum Lebansschutz, die- sichbei Reich finden. Mulischs> Buch ist ein gutes Gegengift, mit dem sich um Reichs Gesamtwerk sachlich bemüht werden kann, gegen seine Verklärung als Wunderheiler, die selbst in der ansonsten guten Reich-Biographie von David Boadellas (Scherz Verlag, 1995, 366 S., 44 DM) aufscheint. Beide Bücher zusammen sind zu empfehlen.

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