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Das Blättchen #8 ab 23.04.2025
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»Wir sind zweitausend, die sind achtundsechzig«

Ob Heuersdorf abgebaggert wird, ist nach wie vor unklar. Die Kumpel bangen um ihre Arbeit

  • Hendrik Lasch, Lippendorf
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Kohlekumpel im Südraum Leipzig fürchten, dass ein widerspenstiges Dorf den Bergbau stoppt. Sie suchen den Schulterschluss - und drohen kaum verhohlen den Ausharrenden.

»Es bewegt sich zu wenig«, ruft Mario Gierl ins Mikrofon. Der kräftige Mann mit dem Basecap schaut von der Empore der riesigen Halle zu dem sperrangelweit geöffneten Tor, durch das ein nicht enden wollender Menschenstrom drängt. Immer mehr Männer und Frauen verteilen sich zwischen Fräsmaschinen, Werkbänken und Metallregalen. Die meisten tragen auf ihren Jacken das grün-blau-gelbe Firmensignet der Mitteldeutschen Braunkohlen GmbH (Mibrag), andere arbeiten im Vattenfall-Kraftwerk Lippendorf, dessen Turbinenblöcke vor dem Tor der Halle grau, glatt und gewaltig in den Himmel ragen. Auch Arbeiter von Dow Chemical und anderen Betrieben aus der Nachbarschaft sind zum Kraftwerk gekommen. Als sie sich in der Halle verteilt haben, ertönt eine Sirene. Unterm Hallendach setzen sich zwei große Kranbrücken in Bewegung. Sie rollen aufeinander zu - und kommen erst kurz vor der Kollision zum Stehen.

»Ein Zeichen in die Region«

Das Bild soll Symbolkraft haben. Geladen haben Mibrag und Vattenfall zur Betriebsversammlung. Doch was in der Lippendorfer Werkstatt nach Schichtschluss stattfindet, ist eine Inszenierung, die sich mindestens ebenso sehr an die anwesenden Journalisten wie an die Belegschaften wendet. Man wolle »der Öffentlichkeit dokumentieren, dass wir in schwierigen Zeiten aufeinander zugehen«, erklärt Franz Waberzeck, Betriebsratschef des Kraftwerks, den tieferen Sinn der rollenden Kräne. Mario Gierl, sein Amtskollege von der Mibrag, spricht von einem »Zeichen in die Region« und fügt hinzu: »Wir wollen uns öffentlich zeigen.«
Die Kumpel haben sich in Lippendorf versammelt, weil sie Angst haben. Sie fürchten, dass die Grube »Vereinigtes Schleenhain«, ein Großtagebau der Mibrag, am Jahresende zum Stehen gebracht wird; dass damit das Kraftwerk Lippendorf ohne Kohle dastünde und vom Netz gehen müsste; dass der Kohleförderer in den Ruin getrieben und eine Industrielandschaft, von der die ganze Region am Leben gehalten wird, zusammenbrechen könnte. Und das alles, weil dem Tagebau ein Ort namens Heuersdorf im Wege steht, dessen Bewohner nicht weichen, sondern gegen die Vernichtung ihres Dorfes durch den Bergbau klagen. Jetzt rollen die Bagger auf der einen und die Klagen auf der anderen Seite aufeinander zu. Ob die Kollision vermieden werden kann oder wer, falls das nicht gelingt, die Oberhand behält - das ist völlig offen.
Dass die Braunkohlenkumpel sich genötigt sehen, den öffentlichen Schulterschluss zu suchen, zeigt, wie ernst und verfahren die Situation ist. Sie ist es vor allem deshalb, weil nicht mehr viel Zeit bleibt. Zwar hat Sachsens Regierung schon 1994 »Leitlinien zur zukünftigen Energiepolitik« verabschiedet, in denen klargestellt wurde, dass der ursprünglich für 1993 zum Abbaggern vorgesehene Ort Heuersdorf mit dem Ende der DDR nur eine Atempause bekam, aber nicht dem Bergbau von der Schippe gesprungen war.
In den 14 Jahren danach haben sich die Bagger weiter durch Kohleflöze gefräst, die Regierung hat ein Gesetz zur »Devastierung« von Heuersdorf beschlossen, und die Einwohnerzahl des Ortes hat sich stark verringert. Gelöst aber ist der Konflikt mitnichten. 2005, sagt Mario Gierl, wird nun »das Jahr der Entscheidung«.
Gierl, oberster Arbeitnehmervertreter im Mitteldeutschen Revier, wirkt zurückhaltender, als man sich einen Bergarbeiter vorstellt. Er sagt Sätze wie den, dass Kohlekumpel »diszipliniert und in aller Regel auch geduldig« sind. Doch er sagt auch, dass die Geduld bei der Mibrag am Ende sei.
Es kursieren »Horrorszenarien«, wonach am 1. Januar 2006 die Bagger am Ortsrand von Heuersdorf angekommen sind - und stillgelegt werden müssen. Wenn es so weit käme, sagt der Betriebsratschef, sei das »den Kollegen nicht mehr zu vermitteln«. Gierl spricht von Druck, von Ungeduld, von Unverständnis. Irgendwann, sagt er, und es schwingt ein wütender Unterton mit, »irgendwann platzt auch uns einmal der Kragen«.
Der Zeitpunkt lässt sich ziemlich genau ahnen. Im Sommer muss für die Grube »Vereinigtes Schleenhain« ein neuer Hauptbetriebsplan vorgelegt werden. In diesem Dokument, das die Betriebsgrundlage des Tagebaus für die nächsten zwei Jahre darstellt, wird erstmals davon die Rede sein, dass Bagger auf Heuersdorfer Grund vorrücken. »Für einen optimalen Betrieb«, sagt Gierl, »hätten sie schon vor einem Jahr dort sein müssen«. Doch der Betrieb läuft nicht optimal. Das erste »Heuersdorf-Gesetz« wurde vom Verfassungsgericht gekippt, ein allgemeines Planungspapier erklärten Richter auf Antrag der Gemeinde für ungültig. Dass der Hauptbetriebsplan auch vor Gericht landet, ist sicher wie das Amen in der Kirche. Wenn er fällt, brennt im Tagebau die Luft.
Wütend sind die Menschen, die ihren Lebensunterhalt in der Kohle verdienen, schon jetzt. »Die Zukunft darf nicht aufs Spiel gesetzt werden, weil ein paar Heuersdorfern die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge nicht richtig erklärt worden sind«, sagt Vattenfall-Betriebsrat Waberzeck. Und Uwe Bruchmüller, der Bezirksleiter der Bergarbeitergewerkschaft IG BCE, wirft Zahlen in die Lippendorfer Halle: erst die der Mibrag-Beschäftigten, dann die der Heuersdorfer, die bislang nicht über eine Umsiedlung verhandeln wollen. »Wir sind zweitausend, die sind achtundsechzig«, sagt er und: »In einer Demokratie darf eine Minderheit nicht über die Mehrheit herrschen.«
Dass es im Streit um Heuersdorf nicht um Mehrheiten, sondern um entgegengesetzte Rechtsauffassungen geht, erwähnt Bruchmüller nicht. Die Heuersdorfer klagen für ihr Recht auf Heimat; die Mibrag pocht auf die Möglichkeit zu ungestörter unternehmerischer Tätigkeit. Die Gemeinde hat eine Umfahrung des Ortes und einen Verzicht auf die darunter liegende Kohle vorgeschlagen; das Unternehmen nennt das unwirtschaftlich. Stattdessen wird seit einiger Zeit ein Junktim zwischen einem juristischen Sieg des Dorfes und der dann angeblich unausweichlichen Pleite des Unternehmens hergestellt. Das Schreckbild der Insolvenz hat nicht nur die Kumpel wachgerüttelt, sondern auch die regionale Politik. Mit weiteren Klagen, so Regierungspräsident Walter-Christian Steinbach, werde der Region »ein Bärendienst« erwiesen.
Ob derlei Appelle in Heuersdorf verfangen, steht zu bezweifeln. Zwar hat die Mehrzahl der einst 320 Bewohner dem Ort längst den Rücken gekehrt. Doch ein harter Kern widersetzt sich. Gründe des Gemeinwohls, die allein die Vernichtung einer Gemeinde durch den Bergbau rechtfertigen könnten, seien »nicht gegeben«, glaubt Horst Bruchmann, der Ortsvorsteher. Die Politik habe sich die Argumente des Unternehmens »ohne nähere Prüfung zu eigen gemacht«, sagt er und beteuert trotzig: »Mich müssten sie hier schon herauszwingen.«
Für Mibrag-Betriebsrat Mario Gierl ist derlei Hartnäckigkeit nicht nachvollziehbar. Bruchmann vertrete nur die Interessen der Ausharrenden, nicht aber die der Wegzügler: »Um die haben wir uns gekümmert.«

Lukrativ oder wenig attraktiv?

Die Mibrag unterbreitet lukrative Angebote für Umsiedler; zudem soll Ende Februar doch noch der Grundstein für ein »Neu-Heuersdorf« gelegt werden. Bruchmanns Argument, dabei handle es sich um eine wenig attraktive Reihenhaussiedlung, lässt Gierl nicht gelten: »Hätte er vor zehn Jahren einem kollektiven Umzug zugestimmt, wäre der Ort jetzt schon grün.« Überhaupt: der Ortsvorsteher. »Die Bösen«, sagt Gierl, »sind für mich nicht die Heuersdorfer.« Schuld am Dilemma hätten »Herr Bruchmann und diejenigen, die ihn von außen unterstützen«.
Dass der Heuersdorfer Gemeinderat, der sich seit der kürzlichen Zwangseingemeindung in die Nachbarstadt nur noch »Ortschaftsrat« nennen darf, weder vor zehn Jahren noch jetzt den Beschluss zum Wegzug fasste, hat indes wohl Gründe jenseits der vermeintlichen »Sturheit«. Eine Studie stellte schon 1993 große Defizite bei der geplanten Umsiedlung fest. So ist der Gemeinderat vor den Kopf gestoßen worden, indem er erst nach der Grundsatzentscheidung über die Tagebauführung konsultiert worden ist. An dieser Haltung hat die Politik nie etwas geändert. Regierung, Landtag und Behörden fassten Beschlüsse, das Dorf hatte zu spuren. Von Versuchen, das frostige Klima zu verbessern, war bis zuletzt wenig zu bemerken.
Erst jetzt, da es nach den Worten von Bruchmüller »fünf vor zwölf« ist, scheint sich das zu ändern. Der neue sächsische Wirtschaftsminister Thomas Jurk (SPD), selbst in einer Bergbauregion gebürtig, besuchte unlängst die Kohlekumpel - fuhr danach aber auch zu Bruchmann. Jurk, der diplomatisch anmerkt, er hätte sich in der Vergangenheit einen »etwas sensibleren Umgang« mit der Gemeinde vorstellen können, hofft darauf, das »Eis ein wenig abschmelzen« zu können. Im Grundsatz hat er freilich wenig Neues zu verkünden. Die SPD hat schon zu Oppositionszeiten ein klares Bekenntnis zum Kohlebergbau abgelegt. Auch Jurk nennt die Braunkohle einen »stabilen Garant« für die Energieversorgung. Er stellt auch klar, dass die Regierung »alles tun« werde, damit die Klage der Heuersdorfer gegen das Landesgesetz »keinen Bestand hat«.

Showdown vor Gericht droht

Es sieht also alles nach einem Showdown vor Gericht aus. Hoffnung auf eine einvernehmliche Lösung haben die um ihre Arbeit fürchtenden Kumpeln kaum noch. Auf der Belegschaftsversammlung im Kraftwerk Lippendorf appelliert Gewerkschafter Bruchmüller an die Richter, »zügig zu entscheiden«, um »Sicherheit für uns und unsere Familien zu schaffen«.
Die Kohlekumpel wollen Muskeln zeigen - »friedlich, aber deutlich«, wie es heißt. Dass es so bleibt, steht zu hoffen. Der Ton in Richtung der widerspenstigen Gemeinde wird schärfer. »Wir wollen niemanden erpressen«, sagt Gewerkschafter Bruchmüller. Doch ein Kumpel äußert unter dem Beifall, er hätte den Marsch vor der Versammlung »gern ein paar Kilometer weiter drüben« durchgeführt - dort, wo Heuersdorf liegt. Dabei, fügt er hinzu, »hätten wir gleich ein paar Planierraupen mitnehmen können«.

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