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  • Politik
  • Victor Klemperers Tagebücher in neuen Interpretationen

Als ob sich ein Vater gefunden hätte

  • Lesedauer: 7 Min.

Von Fritz Rudolf Fries

Nach Erscheinen der Tagebücher von Victor Klemperer gab es, wenn wir einmal im Rahmen ihrer Rezeption bleiben, zwei Überraschungen. Die erste Überraschung traf den Verlag; der hatte sich nur zögerlich entschlossen, das noch zu DDR-Zeiten begonnene und dank des Herausgebers (Walter Nowojski) Insistenz abgeschlossene Unternehmen auf den nunmehr schwankenden Markt zu bringen. Es wurde ein Erfolg, von dem Verleger träumen. Nicht nur die Rezensenten griffen zu und erklärten die Veröffentlichung zum Ereignis des Bücherherbstes 1995, es vertieften sich die Leser in diese »Stenogramme aus der Vorhölle« (J.P. Reemtsma) und vergossen Tränen der Rührung und Empörung über das, was hier einem »Sternträger« und Bewohner eines Dresdner »Judenhauses« angetan worden war - so als hätten wir, zumal die Leser einer älteren Generation, das alles verdrängt und vergessen.

Wieso mit einmal diese Leser-Solidarität fünfzig Jahre »danach«? Wieso das Interesse am Leben und Überleben des ordentlichen Professors für Romanistik an der TU Dresden Victor Klemperer? Die nun vorliegenden Publikationen zur Wirkungsgeschichte Klemperers beschäftigen sich mit dieser Frage nur indirekt. Bei Aufbau ist, herausgegeben von Hannes Heer, eine Sammlung von Aufsätzen unter dem Titel »Im Herzen der Finsternis - Victor Klemperer als Chronist der NS-Zeit« erschienen. In der mehr von Wissenschaftlern beachteten Zeitschrift »lendemains«, einem Periodicum zur »vergleichenden Frankreichforschung«, ist die Rede vom Romanisten Klemperer, aber auf eine verallgemeinernde Art, so daß sich beide Veröffentlichungen aufs glücklichste ergänzen.

Klemperers phänomenaler Erfolg tangiert ja die Thesen eines anderen erfolgreichen Buchs aus diesen Tagen, die des amerikanischen Historikers Goldhagen.

Für ihn ist der Antisemitismus eine Komponente des deutschen Charakters. Der Dresdner Klemperer, der per Dekret zum »Juden« erklärt wurde, gibt ein wechselndes Bild seinerNachbarn. Neben den Sadisten und Karrieristen, die auch nach 1945 über Leichen gehen werden, gibt es die vorsichtigen aber zur Hilfe bereiten Nachbarn; und unvergessen in den Tagebüchern das Hohelied auf die »arische« Ehefrau Eva und auf jene Kinderärztin, die in Pirna unter Lebensgefahr die Tagebücher versteckte. Das Tauwetter der Rechtfertigung, das nach dem Erscheinen der Tagebücher zu einer peinlichen Gefühlsschwemme hätte führen können, es ist ausgeblieben. Statt dessen ist der aus Emotion und Akribie gemischte Stil des Tagebuchschreibers hilfreich, mit den Umbrüchen in unserer Zeit umzugehen.

Der vom Erfolg überraschte Verlag hätte sich durchaus auf frühere Publikationen Klemperers verlassen können. 1989 waren seine Jugenderinnerungen erschienen. In »Curriculum vitae« wird die Geschichte des 1881 geborenen Benjamins einer deutschen Familie erzählt, die es so genau mit den Bräuchen nicht nahm, die ihr Oberhaupt, der Rabbiner aus Landsberg a.d. Warthe, von Berufs wegen vertrat. Die älteren Brüder wenden sich der Musik und der Medizin zu. Victor fällt durch keine große Begabung auf. Was er hat, ist das absolute Gehör für die Verfehlungen der deutschen Sprache. Und als diese zur Magd der Wahnwitzigen im Dritten Reich erniedrigt wird, ist er der Chronist ihres Verfalls. Die mörderische Banalität des alltäglichen Faschismus nistete in der Kommando- und Liquidationssprache als Teil der Umgangssprache. 1947 erschien bei Reclam in Leipzig das Ergebnis dieser in den Tagebüchern beschriebenen Untersuchung. Und wer, der damals jung war, ist nicht erzogen worden von Klemperers Büchlein »LTI« - der Sprache des Dritten Reiches?

Die zweite Überraschung bei Erscheinen der Tagebücher bescherten sich (und

uns) die deutschen Romanisten. Denn fast wäre ihnen in der Gestalt Victor Klemperers ein eminenter Kollege abhanden gekommen. Der eine und andere Rezensent der Tagebücher war so unvorsichtig gewesen, uns den weithin unbekannten Klemperer als einen »namhaften Romanisten« vorzustellen. Das brachte die namhaften Romanisten unserer Tage auf den Plan.

Der (west)berliner Romanist Michael Nerlich war einer der ersten, am Beispiel Victor Klemperers die Misere einer Wissenschaft aufzuzeigen. Diese war, wen überrascht es, stets auch ein Opfer ihres politischen Umfelds gewesen. Das hatte mit einem chauvinistischen Frankreichbild zu tun, das Klemperer mit seinen frühesten Publikationen zu korrigieren suchte. Mit Erfolg? Nerlichs Beitrag zu diesem Thema findet sich in beiden Publikationen als eine Art Basisreferat. Klemperer sei, so Nerlich, mehrere geistige Tode gestorben. Seine fünf Monographien zum deutsch-französischen (Literatur)VerhäItnis sowie seine Habilitation über Montesquieu seien im Ersten Weltkrieg untergegangen. Die Machtübernahme der Nazis habe dann die Vermittlung moderner französischer Literatur nach Deutschland »ins Vergessen gestürzt«. Und aus der »dritten Phase ... konnte erst nach 1945 in der DDR einiges erscheinen«. Im übrigen habe der Kalte Krieg »den wissenschaftlichen Dialog zwischen Ost und West weitgehend unmöglich gemacht«.

Es sind an die zwanzig Autoren, die in beiden Publikationen Klemperers in den Tagebüchern ausgeschickte Impulse aufgreifen und interpretierend weitergeben. Die Autoren des Aufbau-Verlags ergänzen mit einem Reichtum an Fakten und neu gesichtetem Material Klemperers »Stenogramme«. So Nora Goldenbogen (»Man wird keinen von ihnen wiedersehen«. Die Vernichtung der Dresdner Juden 1938-1945) oder Hannes Heer (»Vox Populi. Zur Mentalität der Volksgemeinschaft«).

Klemperer im Jahre 1954 Foto: ND-Archiv

Nicht ohne Rührung gewahrt der Leser, wie diese fachlich so sattelfesten Wissenschaftler, Professoren und Dozenten der Universitäten von Kassel, Augsburg, Berlin oder Paris in Klemperer das Bild einer Vaterfigur beschwören. Und sei es wie bei Hennig Krauss über den Umweg des eigenen Vaters: »Vielleicht hat mein Vater als Schüler ... Klemperers >Die moderne französische Prosa< erstanden.«

Für die Romanisten in der DDR aber gab es zwei Vaterfiguren: Victor Klemperer in Halle und Werner Krauss in Leipzig. Im Anhang von »lendemains« wird ein bislang unbekannter Briefwechsel zwischen beiden Professoren abgedruckt, der das Herz der bis auf den Tag aktiven Klemperianer und Kraussianer höher schlagen läßt. Es sind diplomatisch abgewogene Noten in einer Balance zwischen Hochachtung und Mißtrauen. Die unterschiedlich vertretenen Standpunkte innerhalb des Fachgebiets verbergen nur mangelhaft die Unterschiede in der jeweiligen »Weltanschauung«. Klemperer bekannte sich auch nach dem Ende der braunen Barbarei zu einem Protestantismus ä la Lessing, zur Toleranz der »Ringparabel«; der den Henkern entkommene marxistische Ordinarius an der Leipziger Karl-Marx-Universität Werner Krauss verstand Literaturgeschichte als geschichtlichen Auftrag - und fast erschien die DDR in seinen Vorlesungen, im Sinne Hegels, als das gelobte Land, das die Urväter erträumt. Die Urväter wären die Denker des französischen 18. Jahrhun-

derts gewesen, deren Theorien in der Französischen Revolution zur materiellen Gewalt ausschlugen. Und hier hatten beide Professoren ein gemeinsames Forschungsgebiet. Für Klemperer aber war ein Philosoph wie Rousseau der Begründer der modernen ideologischen Diktatur - »Die postume Entlarvung Rousseaus heißt Hitler« -, und das meinte einen Erziehungseifer im Diktat einer absoluten Idee. Tatsächlich kann man in den halbausgetragenen Differenzen innerhalb der DDR-Romanistik der frühen Jahre die gesellschaftlichen Probleme des Landes erkennen. In »lendemains« sind die Beiträge von Rita Schober, »namhafteste Schülerin von Victor Klemperer« und von Winfried Schröder, »einer der namhaftesten Schüler von Werner Krauss« (Nerlich) vortreffliche Einführungen auch in diese Problematik. Mit -heutigen Augen gelesen, entdeckt man mehr Gemeinsamkeiten zwischen Krauss und Klemperer als unaufhebbare Gegensätze. Und so ist es nicht verwunderlich, wenn das Feuilleton nach den ersten Jubelarien auf Klemperer nun versucht, ihn wieder vom Sockel zu heben. Allen voran der »Spiegel«, der Klemperers Eintritt in die SED nach 1945, seine pädagogische Leidenschaft für die akademische Jugend (bei gleichzeitiger Kritik an der noch immer faschistoiden Sprache) denunzierte. Man lese dazu den brillanten Beitrag in »lendemains« von Hans-Jörg Neuschäfer (Universität Saarbrücken).

»Der »Holocaust«-Film erlaubte die Empathie mit den Opfern«, schreibt Hannes Heer, »Schindlers Liste« erinnerte daran, daß der Mensch auch in der Diktatur frei ist, Goldhagens Buch über »Hitlers willige Vollstrecker« demonstrierte, wie Hunderttausende mit dieser Freiheit umgingen. Klemperers Beitrag besteht darin, zu zeigen, was Deutschland damals war - ein Ort des Schreckens für die Anderen, die Juden - und wer die Deutschen waren - eine Gemeinschaft, die sich über die Ausmerzung der Anderen definiert hatte. Wer sich heute lesend auf diesen Alptraum einläßt, muß aber wissen: Victor Klemperers Tagebücher beschreiben nicht das äußerste, sie sind nur »Stenogramme aus der Vorhölle«.

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