Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Politik
  • Bertolt Brechts Lehrstück »Die Maßnahme« am Berliner Ensemble

Was eigentlich ist ein Mensch?

  • Gerhard Ebert
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Vorabend von Bertolt Brechts 100. Geburtstag, nach über vierzigjährigem Verbot öffentlicher Aufführungen durch den Dichter und seine Erben, bringt das Berliner Ensemble in Zusammenarbeit mit den 47 Berliner Festwochen und dem Bayerischen Staatsschauspiel das »erzkommunistische« Lehrstück »Die Maßnahme« (Musik Hanns Eisler). Da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich. Wo soll das hinführen? Zitieren wir mal schnell den Dichter! »Versuche«, schrieb er, »aus der >Maßnahme< Rezepte für politisches Handeln zu entnehmen«, sollten »ohne Kenntnis des Abc des dialektischen Materialismus nicht unternommen werden.« Welch Abc bekanntlich gründlich durcheinander geraten ist. Auch die Zeiten sind sehr andere. Was einst für die revolutionäre Arbeiterklasse gehalten wurde, ist auseinanderdividiert in clevere Kleinaktionäre, konforme Arbeitnehmer und geduldige Arbeitslose. Und der politische Lehrwert, nach dem Brecht 1931 bei der Uraufführung fragte, ist out.

Umso erregender, daß die hohe künstlerische Qualität der Inszenierung am BE dazu provoziert, neu nachzusinnen. Ich meine, was die jungen Intellektuellen Bertolt Brecht, Slatan Dudow und Hanns Eis-

ler vorschlugen, um den Arbeitern zu helfen, sich gegen den Faschismus zu formieren, konnte nur abstrakt sein. Damals wie heute gilt Georg Büchners Erkenntnis vom Schicksal des Revolutionärs: In einer Revolution ist der Einzelne nur Schaum auf der Welle. Was also hätten die jungen Genossen im fernen China tun sollen, als sich einer von ihnen vom aktuellen Klassenkampf dazu hinreißen ließ, die eigene Entscheidung über den kollektiven Beschluß zu stellen und damit die ganze Bewegung gefährdete? Hätte es einen Ausweg gegeben? Im Leben gewiß.

Aber Brecht ging es um dramatische Zuspitzung. Er gestaltete komprimiert eine mögliche tragische Verstrickung. Hanns Eisler, nicht in simplem Agitprop-Stil, sondern modern überkommene musikalische Mittel des Oratoriums nutzend, in der Chorbehandlung polyphon, rezitativisch oder melodramatisch verfahrend, gab einen zupackenden Drive vor Regisseur Klaus Emmerich gelang es, die tiefe menschliche Problematik einfühlsam zu erfassen. Wie vom Dichter gewünscht, bot er die Vorführung »einfach und nüchtern«. Zugleich ironisierte er bestimmte Vorgänge behutsam. Das ergab mit der Musik, vom Kammerensemble Neue Musik Berlin, unter der Leitung von Roland Kluttig, und von Mitgliedern des Konzertchores der Deutschen Staatsoper Berlin vorgetragen, eine gedanklich dichte, emotional berührende Darbietung.

Die vier Agitatoren sind doppelt besetzt. In Aktion sind vier junge Darsteller. Mira Partecke, Georg Bonn, Achmed Bürger und Thomas Wendrich verkörpern eine Generation, die noch voll unverbrauchter Hoffnung ist. Für sie gilt die Überzeugung, daß »diese tötende Welt nur mit Gewalt zu ändern ist« (Brecht). Sie sprechen einfach, schlicht, sehr empfindsam. Gleichzeitig sitzen da aber auch vier »alte« Darsteller Christine Gloger, Stefan Lisewski, Hans-Peter Reinecke und Axel Werner verkörpern die Generation, die alle Hoffnung hat fahren lassen, weil sie erleben mußte, wie ihr ehrliches Engagement von dogmatischer Borniertheit mißbraucht und diskreditiert wurde. Sie sprechen müde, skeptisch, mißmutig.

Scheinbar unbeteiligt, als Künstler sozusagen erhaben über den Dingen stehend, kommentiert der Tenor Zu erleben ist Götz Schulte, Schauspieler vom BE, hier - an Ernst Busch erinnernd - ein gestisch hervorragender Sänger Wie er, herablassend, smarte Arroganz hervorkehrend, den eigentlich zu verschmähenden Sachverhalt dennoch, weil es ja halt um Kunst geht, engagiert vorträgt, ist großartig. Glanzvoll der »Song des Händlers«, den ein Agitator scheu mit der Frage unterbricht, was eigentlich ein Mensch sei. Gipfelpunkt des Abends, wenn die jungen Agitatoren dazu auffordern, über einen Ausweg, über eine bes-

Götz Schulte gestisch hervorragend als Tenor

sere Möglichkeit nachzudenken, als ihren Mitkämpfer zu töten. Durch eine ostentative Pause wird der Zuschauer gleichsam mit in die Entscheidung hineingesogen. Erlösender Beifall aus dem Publikum legitimiert die Agitatoren, ihren schwerwiegenden Schritt zu tun. Zur guten Kommunikation trägt bei, daß die Argumente

Foto: Bejamin

des Kontrollchores simultan eingeblendet werden. Den jungen Genossen abwechselnd von einem der vier jungen Spieler (ausgezeichnet Mira Partecke) geben zu lassen, mag irritieren. Insgesamt eine geradezu klassisch verfremdete, gar nicht destruktive, sondern produktive Aufführung. Langanhaltender Beifall.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.