- Politik
- Günther Deicke wird 75 Jahre alt
»Lüge dir deine Vergangenheit nicht zurecht!«
Zwei Stunden in meinen alten Tagebüchern geblättert, um herauszufinden, wer ich eigentlich bin. Eine erschreckende Lektüre. Da tauchen plötzlich siebzehn Lebensjahre auf, deren verwirrte Folge schwerer überschaubar ist, als ich dachte ... Welch sinnlos verplemperter Reichtum! Welch Irrtümer!« Diese Notiz Günther Deickes vom 25. November 1956 aus dem Band »Du und dein Land und die Liebe« (1959) betrachte ich als Schlüssel zu seinem Werk. In keinem anderen seiner fünf Gedichtbände hat er so schonungslos mit sich und seinen Zeiten zu Gericht gesessen. Den Versen beigefügte Auszüge aus dem Tagebuch, das er auch während des Krieges führte, bezeugen den persönlichen Irrweg in den Faschismus und die qualvolle Wandlung. Einer vom fast dezimierten Jahrgang '22, dem schon die Schule den »ästhetischen Heldentod« einbleute, der als 2. Wachof-
fizier eines U-Bootes, geködert mit Vaterlandsparolen, Geleitzugsschlachten schlagen mußte (»Heil und Sieg und fette Beute«). Man weiß, nicht zuletzt durch »Das Boot«, um die Opfer - zwei Drittel aller U-Boot-Matrosen verschlang die Tiefe. Oberleutnant Deickes (von dieser Beförderung aus dem April 1945 erfuhr er erst nach 50 Jahren, als er für seinen Rentenantrag recherchierte) Stahlkatakombe schwamm bei Kriegsende vor Norwegen, hatte durch Beschüß die Funkverbindung verloren, erfuhr die Nachricht vom Kriegsende spät. Am 24. Mai 1945 endete das Boot vor Amrum auf einer Sandbank.
Zurück in Thüringen, stürzt sich Deikke - der auf die Vaterlandsfrage nur antworten konnte: »Aber mein Vater war tot« (er wurde, als alles vorbei schien, 1945 erschossen) - nach seiner »verlorenen Zeit« mit allem Enthusiasmus seiner verbliebenen Jugend in »die Zeit von Hammerschlag und Trümmerstein«. All seine Zukunftsträume heißen Veränderung. Mit 17 Jahren waren ihm einst erste
Verse geglückt. Nun schreibt er intensiv Gedichte. »Wie taub/ stehn die Ruinen«, heißt es in »Herbstabend 1947«. Und in »Aufbruch«: »Aber neu ertönen Lieder,/ jugendschön ergrünt der Tag.« Tätigkeit beim Kulturbund, als Theaterkritiker bei der »Weimarer Abendpost«. Die literarischen Versuche stellt er im legendären Thüringer Arbeitskreis Junger Autoren unter Franz Hammer zur Diskussion.
Viel Hymnisches findet sich in Deickes Gedichten, die sich oft zu Zyklen runden. Er ruft die Aufbaubegeisterung des Anfangs an, kündet von den neuen »Herrn auf eigenen Wegen«. Er feiert die Liebe, die thüringische Landschaft, die für ihn Ähnlichkeiten hat mit den Bildern von Ludwig Richter und der Poesie von Eichendorff. Doch zunehmend erkennt er, wie notwendig beim Schreiben eine kritische Sicht ist. »Konflikte, die nicht ausgetragen oder zu oberflächlich genommen wurden, kehren später zwangsläufig noch schärfer wieder « Ein Satz aus dem Vorspruch zu »Traum vom glücklichen Jahr« (1959), dem zweiten Gedichtband.
Foto: Barbara Meffert
Auch den Blick auf das »geteilte Land« läßt er sich nicht nehmen: »Kennst die Dörfer hinterm Walle, fränkisch in der Art,/ und die kleinen Städte alle/ hast du dir bewahrt.«
Als Redakteur und Lektor dann in Berlin fließen die Gedichte nach Ausflügen ins Russische oder Rumänische (»Mit den Bauern der Moldau in einem Atemzug über Wein, Mais und Literatur geredet«) spärlicher. Seit Deicke Liedtexte vorlegte, rennen ihm Komponisten mit der Bitte um ein Libretto das Haus ein. Am erfolgreichsten: Klaus Fehmels Musical »Was ihr wollt«, das auch von der DEFA verfilmt wird. Eine lange Reihe: von Robert
Hanells »Esther« (nach der Novelle von Bruno Apitz) über Ernst Hermann Meyers »Reiter der Nacht« bis hin zu Ruth Zechlins Oper für Schauspieler »Reineke Fuchs«, Joachim Werzlaus »Meister Röckle« nach einem Märchen, das Karl Marx seinen Kindern erzählte, und Fritz Geißlers »Chagrinleder«. Mehrere Staatsopern-Premieren also. Dazu Oratorien, Hörspiele, Features. Nicht zu vergessen die vielen kongenialen Übersetzungen, ?vor -allem -aus dem Russischen (Pasternak), dem Litauischen (Miezelaitis) und Ungarischen (Jozsef, Vörösmarthy, Väs). Sogar an das Sonettwerk »Das 26. Jahr« von Lörenc Szabo, das als kaum übersetzbar galt, wagt sich der Dichter. Hilfe stets für den schreibenden Nachwuchs. Heine-Preis. Nationalpreis.
Seinem Band »Du und dein Land und die Liebe« stellte Günther Deicke, dem unsere Gratulation zum heutigen 75. Geburtstag gilt, Worte von Leonardo da Vinci voran: »Lüge dir deine Vergangenheit nicht zurecht!« Nach zwei einschneidenden gesellschaftlichen Umstürzen (der letzte zum Beispiel brachte mit sich, daß im Verlag der Nation das fertige Manuskript für ein Hölderlin-Buch nicht mehr gedruckt werden konnte), befragt sich Deicke, bescheiden und ehrlich, nach seinen heutigen Möglichkeiten. Aus der Versenkung hat er sein U-Boot-Tagebuch geholt. Und eines Tages, da bin ich sicher, wird er über diese Vergangenheit eindringlich zu uns reden.
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