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  • Politik
  • Ungewöhnliches, gewöhnliches Leben - Emma Stenzer zum Hundertsten

»Auch das noch«

  • Lesedauer: 7 Min.

Fotos: Schober-Beimler, privat

Obduktion. Der Schuß kam von vorn und aus nächster Nähe. Franz' Körper ist furchtbar zugerichtet.

Erst nach seinem Tod kommt Emma frei. Sie kann nicht ihrem Schmerz leben, die Mädchen brauchen sie, und das Mitgefühl der vielen um sie herum tut ihr gut. Überhaupt die Nachbarn aus der Siedlung! Einer von ihnen, Sozialdemokrat, ließ es sich nicht nehmen, zur Totenfeier zu sprechen. Noch auf dem Friedhof wurde er verhaftet und nach Dachau gebracht. Emma durfte nicht in der Siedlung bleiben. Sie und die Kinder gingen zurück nach Anspach - in die Verbannung. Sie mußte sich täglich melden, sie steht unter Kontrolle und Beobachtung. Nachts besuchen sie Genossen und schlagen vor, sie und die Kinder ins Ausland zu bringen.

Die erste Station ist das Saarland, dann Frankreich - Paris. Die Mutter mit den drei Kindern, das ist ein Bild des Exils, das legendäre Züge bekommt. Anna Seghers wird kurze Zeit später in einem Aufsatz darüber schreiben: »Manchmal taucht in unserer Emigrationsgruppe eine neue Frau auf, etwas bleicher als die meisten, etwas schwerer blickend. Auf der Durchfahrt ist sie gekommen, wie man eine Familie in einer fremden Stadt besucht, oder um ein paar Wochen bei uns zu leben. Sie hat ein Kind bei sich oder mehrere Kinder Diese Kinder erwecken eine jähe, fast wilde Zärtlichkeit. Sie sind die Kinder und Frauen der verlorenen, unvergeßbaren Genossen. Wo sie hinkommen, haftet ihnen die Legende ihrer Väter an, die auf dem Schafott ermordet wurden oder auf einem Polizeitransport oder in Konzentrationslagern. Jeder von uns kennt doch den Zettel, den man auf Schönhaars Grab warf am Beerdigungstag unter Lebensgefahr- Wir werden deinen Sohn in deinem Geist erziehen. Jeder von uns hat gehört, daß Stenzers Frau den zerschundenen Leichnam ihres Mannes wie im Märchen nur an einer Narbe wiedererkannte. Andres Frau sprach zu den Frauen der Emigration am selben Tag, als der Kopf ihres Mannes fiel. Keine Stunde hat Muths Frau nach der Ermordung ihres Mannes die Arbeit für andere unterbrochen. Diese Frauen besitzen alle in ungewöhnlichem Maße die Kraft, furchtbare ungewöhnli-

che Augenblicke in das gewöhnliche Leben hineinzuzwingen. Nur dadurch gelingt es ihnen, nicht nur sich, sondern auch andere aufrecht zu halten. Als die Frau des toten Stenzer ihre drei kleinen Kinder in einem engen Pariser Hotelzimmer zu Bett brachte, etwas flickte, etwas schälte, mit ihrem ruhigen Gesicht, ein paar zerstreute Sachen auflas, schien es uns allen, die ganze verwirrte Welt könnte allmählich in Ordnung kommen.«

Doch allein vom Respekt oder der Hochachtung, auch nicht von der Solidarität der Genossen, die ja auch nicht viel haben, wird man nicht satt. Und wo soll Emma, wenn es überhaupt Arbeit gäbe, die drei munteren Geister lassen? Endlich, Ende August 1934, dürfen sie gemeinsam mit 16 anderen Emigranten dorthin, wo sie sich Geborgenheit, Sicherheit, Arbeit und Heimat erhoffen: in die Sowjetunion. Kurze Zeit sind sie in Leningrad, kommen dann nach Moskau. Und was machen die Genossen nun mit ihnen? Sie beschließen, daß Emma, die keinen Beruf und bildungsmäßig keine Papiere vorzuweisen hat, erst einmal lernt, auf der KUMS, der internationalen Universität des Westens, wo die ausländischen Genossen weitergebildet werden. Natürlich wären die drei Mädchen bei dieser wichtigen Arbeit hinderlich, aber dafür war gesorgt, gab es doch in Iwanowo - 600 Kilometer von Moskau entfernt - ein internationales Kinderheim, das die Textilarbeiter der Stadt mit Hilfe von Sammlungen eingerichtet hatten. Alles bestens, meinten die sowjetischen Genossen. Emma aber lief weinend durch Moskau.

Doch den Mädchen gefiel es im Heim. Hier waren wirklich Kinder aus aller Welt: Deutsche, Bulgaren, Brasilianer, Chinesen, Österreicher, Japaner, Spanier, Koreaner, und sie alle einte die Verbundenheit mit einer Idee, die Sozialismus hieß und der nach ihrer Überzeugung die Zukunft gehörte. Dafür wollten sie gerüstet sein und lernten und waren vorbildliche Pionierinnen.

Auch die Mutter lernte und merkte, wieviel es nachzuholen gab: Mathematik und Geschichte, Geographie und Marx und Lenin. Als 1937 die KUMS aufgelöst wurde, kam sie in die erste Kugellagerfabrik Moskaus als Dreherin. Im Sommer

1937 wurde Emma Stenzer verhaftet. Obwohl sie Gefängnisse schon kannte, war dies hier etwas ganz anderes. Sie hatte geglaubt, bei den Ihren zu sein, und nun mißtrauten diese ihr: Warum hatten die Nazis sie freigelassen? Warum hatte sie danach von den Nazis Wohlfahrts-Geld angenommen? Sie sagt heute, sie hätte Glück gehabt. Der, der sie verhörte, und ihr Übersetzter seien anständig gewesen. (Erst später hätten Jüngere, ohne Skrupel und Anstand, diese erste Generation ersetzt, und es wären kaum Verhaftete wieder freigekommen.) Immer wieder hat sie im Verhör zu erklären versucht: daß die Empörung über den Tod von Franz so viel Druck erzeugt hatte, daß man sie - die Witwe und Mutter - freiließ. Daß sie hätte nachweisen müssen, wovon sie lebt, und da war sie auf die Wohlfahrt angewiesen gewesen. Emma war überzeugt, daß ihre Verhaftung ein Irrtum war. Als sie sah, wie viele Genossinnen im Gefängnis saßen, wuchs ihre Überzeugung, das sei das Werk der Feinde des Sozialismus. Das hat sie auch gesagt, als' sie endlich wieder frei war, und das ist auch heute eine ihrer Erklärungen. Es gäbe halt immer »solche und solche«. Die Mädchen erfuhren erst nach 1945, daß die Mutter im Gefängnis gewesen war. Überhaupt spricht Emma darüber sehr selten.

Nach ihrer Inhaftierung war Emma Stenzer sehr krank. Sie erhielt eine kleine Unterstützung der Roten Hilfe und viel Liebe und Fürsorge von den russischen Freunden, mit denen sie Wand an Wand lebte. Strickend verdiente sie sich ein paar Rubel hinzu. 1940 kamen endlich die beiden älteren Mädchen aus dem Heim, zu dritt wohnten sie in dem neun Quadratmeter großen Zimmer. Damals störte sie das nicht, es war normal, heute staunen und lachen sie darüber. Als 1941 die Schulkinder Moskaus evakuiert werden, begleiten die Komsomolzinnen Emmi und Elsi den Transport. Auf der Rückfahrt erfahren sie vom Bombenangriff auf ihr Wohngebiet. Aber die Mutter lebt. Am 16. Oktober 1941 werden sie im Komintern-Zug evakuiert. Es gibt nur noch eine freie Zugstrecke 'raus aus Moskau, die Deutschen stehen vor der Tür.

Sie kommen nach Ufa. Erst arbeiten sie in einem tatarischen Dorf- der Winter

ist unheimlich hart und der Schnee riesig hoch, dann wird Emma Näherin in einer Fabrik, die Militärkleidung herstellt. 1943 braucht man sie in einem Kriegsgefangenenlager, die meisten Soldaten waren im Stalingrader Kessel gewesen. Sie ist verantwortlich für politische und kulturelle Betreuung und erlebt erst einmal die Verbohrtheit von Soldaten, die noch immer an den Endsieg glauben. Als es Typhusfälle gibt, verweigern deutsche Ärzte den Kontakt zu den Kranken. Russische Schwestern übernehmen die Behandlung, sie selbst hat Glück: Als sie den Gefangenen vorgestellt wird, bestätigt einer, sie zu kennen. Er ist aus Anspach. Dadurch wird ihr die Arbeit erleichtert. Es entsteht ein Orchester, man spielt Operette, es gibt eine Zeitung. Emma Stenzer bleibt bis August 1946 in Wolsk. Dann fährt sie mit Lilly - die beiden anderen waren ihre eigenen Wege gegangen und hatten geheiratet - nach Deutschland. Sie arbeitet in der Volksbildung, übernimmt aber bald die Betreuung der Enkel, sie ist über fünfzig und hat eine Menge ehrenamtlicher Funktionen. Lilly verheiratet sich nach Moskau, Elsis Mann ist Spanier. Die Großfamilie wird nicht von Scheidung und frühem Tod verschont - eben »gewöhnliches Leben«.

Heute sieht sie oft die Bilder vor sich: das 13jährige Dienstmädchen, die Gefangene in Stadelheim und Moskau, die Emigrantin in Paris und Ufa. Mit den Mädchen und dann ganz ohne sie. Nun, da die Kraft abnimmt, hat sie Mitleid mit dieser Mutter. Damals hatte sie keine Zeit dazu. Heute hat sie 13 Enkel und 21 Urenkel. Die Tochter Emmi betreut sie, weil die Beine nicht mehr so wollen. Als sie kurz vor dem Gebvirtstag für einige Tage ins Krankenhaus kommt, wechseln sich die Töchter und deren Familien an ihrem Bett ab - keine Stunde am Tag soll die Mutter allein bleiben. Im Kopf ist sie ganz klar, und es ist nicht Alterssturheit, daß sie zu ihrem Leben und dem, was Franz und sie geträumt und gewollt haben, steht. »Auch das noch«, hat sie gesagt, als 1989 die DDR zusammenbrach. Was sollte sie auch noch erschüttern können? Die UrUrEnkel fechtens besser aus? Herzlichen Glückwunsch zum Hundertsten!

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