Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

Die Nachäffung des Westens kann nicht Ziel der Linken sein

Interview mit Tamás Krausz

  • Lesedauer: 10 Min.
WAS KOMMT VON LINKS? - In dieser Serie setzen sich prominente Linke aus aller Welt kritisch mit dem Scheitern des Realsozialismus auseinander und denken - sich dem Zeitgeist widersetzend - über gesellschaftliche Alternativen nach.

In gewisser Weise repräsentiert der 1948 geborene Tamás Krausz den für Zentralosteuropa klassischen Typus des politisierenden Intellektuellen. Der Historiker und Rußlandexperte - er ist Vorstand des Instituts für Russische Studien an der Budapester Universität – verschrieb sich in den 80er Jahren dem Konzept des Selbstverwaltungssozialismus.

Krausz ist Mitbegründer der »Linken Alternative«, der 1988 entstandenen wichtigsten Sammelorganisation unabhängiger und systemoppositioneller ungarischer Linker. Auf dem letzten Kongreß der alten Staatspartei im Jahr 1989 war er Sprecher der »Volksdemokratischen Plattform«. Bis heute wirkt er als Führungsfigur der daraus entstandenen »Linken Plattform« innerhalb der Nachfolgepartei, der regierenden Ungarischen Sozialistischen Partei. Krausz ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift »Eszmelet« (Bewußtsein), »Der sowjetische Thermidor. Das geistesgeschichtliche Vorspiel der stalinschen Wende« ist seine jüngste Buchpublikation. Seit Kindesbeinen versäumt er, wenn möglich, kein Match seiner Fußballmannschaft MTK Budapest.

Frage: Das Interesse an Osteuropa ist seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus spürbar zurückgegangen. Wie hat die ehemalige linke Systemopposition in Osteuropa selbst die Wende verarbeitet?
Tamás Krausz: Wir befinden uns heute erst auf dem Wege zu einer Aufarbeitung. Bislang haben sich drei Hauptströmungen herauskristallisiert. Die erste hat sich neuerlich und mit einer gewissen Nostalgie den Werten des Staatssozialismus zugöwandt. Ein Hauptargument ist hier, das heutige System leiste für die Bevölkerungsmehrheit sozial und wirtschaftlich deutlich weniger als die alte Ordnung. Die zweite Strömung behauptet, es gehe in Osteuropa heute darum, Strukturen eines demokratischen Kapitalismus zu schaffen, in dessen Rahmen dann die Bedingungen für den Übergang zu einem demokratischen Sozialismus reifen. Diese Gruppe hat de facto jede grundlegende Kritik des Systemwechsels aufgegeben.

Die dritte Richtung, und mit dieser sympathisiere ich, hat zwar mit bestimmten Gewissensbissen zu kämpfen, weil viele ihrer Vertreter die grundlegende Umstrukturierung bzw. Zerschlagung des alten staatszentrierten Systems unterstützten - womit sie zum Übergang in einen für semiperiphere Regionen typischen Kapitalismus beitrugen. Dennoch steht diese Strömung noch zu ihrer früheren Kritik an Staatssozialismus und Stalinismus und sucht zugleich neue Möglichkeiten zur Entfaltung von Systemkritik.

In welche Richtungen wird diese Systemkritik vorgetragen?
Zum einen geht es um eine Auseinandersetzung mit den Weltsystem-Theorien aus osteuropäischer Perspektive. Die osteuropäische Entwicklung vor, während und nach dem Staatssozialismus muß unter anderem als Teil weltweiter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Dynamiken und Zusammenhänge begriffen werden, und auch die Suche nach einer Alternative hat sich darauf zu beziehen. Die zweite Schlüsselfrage ist das Verhältnis zum Staat. Hier gibt es sehr große Meinungsverschiedenheiten. Nicht wenige setzen noch immer auf die Rückkehr des Wohlfahrtsstaates - wenn sie dies vielleicht auch mit veränderten Mitteln erreichen wollen. Andere wiederum beharren darauf, daß der Sozialismus der Zukunft keinesfalls mehr als staatliche Form vorstellbar ist, und sie versuchen sich in Richtung der zivilen Bewegungen zu öffnen. Sie suchen in diesen Bewegungen die Keime eines neuen, unabhängigen Sozialismus, einer autonomen, gemeinschaftlich organisierten Gesellschaftsstruktur. Die dritte große Frage ist die nach einem neuen Internationalismus, danach, auf welchem Weg wir aus der Selbstzentrierung der osteuropäischen Linken ausbrechen können. Gewisse neue Handlungsformen sind im Entstehen, so im Rahmen unserer ost-westeuropäischen Konferenzen.

Sehen Sie heute im linken Denken in Osteuropa überhaupt theoretische Neuansätze?
Sowohl die prokapitalistischen Linken als auch die wichtigsten Ideologen des heutigen Systems empfinden ein- und dieselbe Sache als die größte Provokation unsererseits: die Infragestellung der nachholenden Entwicklung, gleich unter welchem ideologischen Banner dieses Ziel verfolgt werden mag. Unsere wichtigste theoretische Neuerung besteht darin, daß wir aufzeigen, daß es unter anderem die Fixiertheit des sogenannten Staatssozialismus auf die nachholende Entwicklung war, die zum Zusammenbruch des Systems und zu einer neuen kapitalistischen Evolution führte. Ohne die Kritik der Nachäffung des Westens kann es heute kein Erstarken einer authentischen Linken mehr geben. Es ist vor allem die jüngere Generation, die dieses Problem zu verstehen beginnt. Die Idee des Selbstverwaltungssozialismus als wichtiger Teil unserer osteuropäischen oppositionellen Traditionen soll und wird meiner Meinung nach bei der Entwicklung neuer, von der nachholenden Entwicklung abgehender Konzeptionen und einer entsprechenden Praxis weltweit eine wichtige Rolle spielen. Das Problem dieser Tradition ist allerdings, daß sie lange Zeit voraussetzte, daß diese neuen gesellschaftlichen Initiativen vor dem Druck der kapitalistischen Verhältnisse durch einen starken Staat geschützt werden. Und: In Zentral- und Osteuropa ist in den letzten Jahren eine historisch sehr spezifische Form von desintegrativem Kapitalismus entstanden. Mit der Analyse von Instabilitäten und Funktionsprinzipien dieses Teilsystems der kapitalistischen Weltwirtschaft versuchen wir, unseren Beitrag zu leisten zur Erneuerung der internationalen linken Theorie.

Welche Möglichkeiten der Zusammenarbeit existieren heute zwischen der zentralosteuropäischen unabhängigen Linken und der Linken im Westen und in der Dritten Welt?
Wir in Osteuropa sind es leid, daß große Teile der westlichen Linken sich noch immer an der Kritik des Sowjetsozialismus delektieren, die östliche Linke belehren und nicht bemerken, daß sie damit längst dem bürgerlichen Denken zuarbeiten. Viel nötiger wäre doch wohl auch im Westen eine gewisse Selbstkritik. Wo bleibt zum Beispiel die Abrechnung mit dem Problem, daß die westliche Linke aller Schattierungen historisch beteiligt war an der Isolation Osteuropas bzw des sowjetischen Blocks und damit indirekt auch an der Herausbildung des Staatssozialismus als Gesellschaftsform? Oder denken wir an die Tatsache, daß Bevölkerung und große Teile der Linken in den Zentrumsländern offenkundig nicht daran interessiert sind, die wirklichen Machtpositionen dieser Länder gegenüber dem Rest der Welt aufzudecken. Die Zentren sind mit der Aufrechterhaltung ihres Reichtums beschäftigt, und dies macht einen großen Teil der Legitimation gegenüber der eigenen Bevölkerung und sogar gegenüber einem Teil der Linken aus. Das Problem der Osteuropäer ist, daß sie sich auf diese Logik einlassen und meinen, die eigene Region müsse sich an dieses System anschließen, um selbst reich zu werden. Wenn die westliche Linke hier eine klare Gegenposition beziehen würde, dann hätte dies ganz gewiß bedeutende gesellschaftliche und politische Auswirkungen in Osteuropa.

Und die Linke der Dritten Welt?
Mit ganz wenigen Ausnahmen gelangen die linken Impulse aus diesem Weltteil nur über Vermittlung von Denkern der sogenannten Ersten Welt zu uns. Dies hängt in zweierlei Hinsicht mit der Geschichte unseres halben Erdteils zusammen. Zum einen wähnten sich die Osteuropäer über Jahrzehnte hinweg auf dem Wege der erfolgreichen Entwicklung. Und wir gingen eben davon aus, daß die Dritte Welt dann irgendwann später einen ähnlichen Weg wie wir gehen könne. Dies war gleichbedeutend mit der Vorstellung, daß sich in jenen Weltregionen schlicht nichts Eigenständiges abspiele. Zum anderen wurde die Diskussion in und über Osteuropa nahezu ausschließlich in der Sprache des »real existierenden Sozialismus« und des klassischen Marxismus geführt, während sich in der Dritten Welt die Entwicklungsproblematik an und für sich in den Vordergrund schob. Das aus diesen Spaltungen resultierende spezifisch osteuropäische Unwissen haben wir bis heute nicht einmal ansatzweise überwunden.

Gibt es für Osteuropa eine sozialdemokratische Alternative?
Gäbe es eine solche, so wäre dies nicht ein sozialdemokratisierter Kapitalismus im westlichen Sinne, sondern es müßte sich um eine erfolgreiche nachholende kapitalistische Entwicklung handeln. Dies ist selbstverständlich illusorisch. Bereits die Theoretiker der Zweiten Internationale gingen davon aus, daß der Auf- und Ausbau eines integrativen Kapitalismus auf der Basis der kapitalistischen Produktionsweise prinzipiell überall in der Welt möglich sei. Doch in Osteuropa übernahm historisch der Staatssozialismus diese Aufgabe, und er scheiterte daran. Bis jetzt sehe ich in Osteuropa nicht ein einziges Zeichen dafür, daß das, was den Kommunisten nicht gelungen ist, nunmehr unter sozialdemokratischen Auspizien erfolgreich erledigt werden könnte.

Aber die regierenden ungarischen Sozialisten, zu denen Sie selbst gehören, glauben offenbar daran.
Die sozialistische Mehrheitspartei in der Regierung unter Gyula Hörn hat sich ungeachtet der Tatsache, daß das Liebkind der traditionellen Linken, der Wohlfahrtsstaat, in Trümmern liegt, ganz und gar einer solchen Vorstellung verschrieben. Horns Ideologen phantasieren von der Möglichkeit einer Wohlstandsgesellschaft. In Wirklichkeit aber betreiben sie die Arbeit des Internationalen Währungsfonds und seiner örtlichen Stellvertreter Daß wir als »Linke Plattform« innerhalb dieser Sozialistischen Partei existieren können, verdanken wir im Grunde der weltweiten Niederlage der Linken, das heißt also unserer Schwäche.

Sehen Sie für die Gegenwart überhaupt Möglichkeiten einer linken Realpolitik? Was sind die vordringlichsten Aufgaben der systemkritischen Linken in Zentralosteuropa?
Sie darf ihre beschränkten Energien gar nicht erst auf alltägliche taktische Kleinkriege verschwenden. Vielmehr muß sich die osteuropäische Linke die starken Traditionen und Positionen, über die sie in der intellektuellen Sphäre verfügt, zunutze machen, und zwar innerhalb und außerhalb der postkommunistischen Parteien. Sie muß versuchen, das gesellschaftliche Denken in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Steckt dahinter nicht der klassische Standesdünkel der osteuropäischen Intellektuellen, die sich stets als die unersetzbare geistige und politische Elite der Gesellschaft gesehen haben?
Nein, unsere Gesellschaften befinden sich heute selbst im Vergleich mit denen Westeuropas in einem erschreckenden Ausmaß auf der Bahn nach rechts. Im geistigen Leben kann es daher nicht vorrangig um die Kritik, sondern durchaus um die Verteidigung von auch bürgerlich geprägten kulturellen Werten gegenüber der extremen Rechten, dem Rassismus und der sozialen Ausgrenzung gehen. Das alles heißt keineswegs, daß die Linke sich nicht intensiv an gesellschaftlichen bzw. zivilen Aktivitäten aller Art beteiligen soll. Doch solange hinter diesen Gruppen und Grüppchen keine breitere soziale Bewegung steht, ist und bleibt ein ernsthafter Eingriff in die sogenannte Realpolitik unmöglich. Nichts beweist dies besser, als daß vor zwei Wochen in Ungarn in Sachen NATO eine Volksabstimmung stattgefunden hat, deren Abwicklung schlicht von Zügen eines Einparteiensystems gekennzeichnet war Die Linke konnte sich gegenüber der Front sämtlicher salonfähiger Parlamentsparteien und der Medienmaschine nicht das geringste öffentliche Gehör verschaffen.

Die Westintegration Ungarns schreitet vor allem auf militärischer Ebene zügig voran. Die herrschenden Kräfte betonen ständig die Überlegenheit der westlichen Zivilisation gegenüber dem östlichen »Monstrum«. Wie erklären Sie die Dominanz dieses Zivilisationsrassismus in Zeiten der Blüte des Multikulturalismus im Westen und was kann und soll die Linke dagegen setzen?
Dieser Zivilisationsrassismus ist tief verwurzelt in der ungarischen Russophopbie, und er gewinnt heute in unserem Land nicht zuletzt deshalb laufend an Boden, weil sich Ungarn trotz intensiven Flehens und Unterwerfungsgesten in Richtung Westen von einer Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat westlichen Typus' immer weiter entfernt. Je realitätsfremder die jetzt in der NATO-Volksabstimmung neuerlich verwendeten Parolen wie »Endlich in Europa«, desto lauter ereifert man sich über das Fehlen westlicher Werte in Rußland. Je mehr man sich gegenüber dem Westen erniedrigt, desto nötiger hat man das Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Osten.

Der Zivilisationsrassismus kann sich auf so prominente Einheizer wie Zbigniew Brzezinski oder Samuel Huntington berufen. Hier wird eine Hierarchie der Zivilisationen verkündet und jeder Ansatz einer sozialistischen Zivilisation in Zusammenhang gebracht mit zu asiatischen Barbaren erklärten Völkern und mit Diktaturen aller Art. Dies ist eine ideologische Konsequenz der heute bestehenden Hierarchien und der Dominanz der Zentrumsländer Die ungarischen Eliten verstehen sehr gut, daß Ungarn sich auf dem Wege einer intensiven, jedoch sehr selektiven Integration in dieses System befindet. Es sind in erster Linie die Neureichen, einige politische Gruppen, ein Teil der Intelligenz und schließlich einige wenige Regionen des Landes, die davon profitieren. Diese Gruppen und Regionen machen sich den Zivilisationsrassismus nach außen zunutze, um die Ausgeschlossenen im Lande selbst hinter sich zu scharen oder zumindest alternativlos ruhig zu stellen. Die Linke wird alledem nicht wirklich etwas entgegensetzen können, solange keine breiteren oppositionellen Massenbewegungen zum Schutz und Selbstschutz der Ausgeschlossenen entstehen.

Fragen: Susan Zimmermann

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -