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  • Politik
  • Hans Modrow über einen schrecklich wahren Satz und eine Verwunderung von Margot Honecker

Am Anfang ist immer Hoffnung

  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt Sätze, deren Wahrheit erschreckt. Jeder Mensch, so der Schriftsteller Günther Weisenborn, kommt aus den Frauen, geht ein wenig aufrecht und dann in den Acker

Das war's. Auf den Punkt gebracht. Wo das Unausweichliche so klar benannt wird, bleibt nicht viel an tröstender Ausschmückung. Aller Sinn, mühsam ins Leben hineininterpretiert, schrumpft angesichts eines solchen Satzes. Rasch relativieren sich all die bedeutenden Ideen, denen wir wissentlich gestatten, unser Leben anzugreifen, es gar aufzubrauchen. Ideen, für die man eintritt und arbeitet, und zwar so, als könne man sich selbst aufbewahren für eine Zeit, die nie kommt. Ja, die nie kommt! meinen die Realisten. Sage keiner, so fügen sie noch hinzu, er sei nicht gewarnt worden: Nur Ameisen bauen an der Utopie, die immer gelingt.

Günther Weisenborn, der westdeutsche Antifaschist, lenkt mit seiner provokanten Replik unsere Aufmerksamkeit auf die Geworfenheit des Menschen, auf die Notwendigkeit von Demut gegenüber diesem einmaligen Geschenk, da sein zu können. Aber- Gerade weil wir nur so traurig kurze Zeit auf diesem Planeten zugegen sind, kann ich den Zynismus nicht teilen, der sich aus böswilliger (und bequemer!) Interpretation dieses Satzes ergeben könnte. Gerade weil wir so ver-

flucht endlich und so verderblich konstruiert sind, erhebt sich die Verpflichtung, die uns gegebene Spanne Zeit verantwortungsbewußt auszufüllen. Zeit ist das wichtigste aller Luxusgüter.

Leider haben wir Menschen diese Begrenztheit des eigenen Lebens zu einer Begrenztheit der planetaren Existenz überhaupt werden lassen. Was unser Verstand schaffen konnte, hat er geschafft. Verstand: Das ist die Kunst und die Freiheit des Anfangs. Aber die das Ende mit zu bedenken hat, die Vernunft - sie hielt nicht Schritt. Der Mensch jagt zwar nicht mehr den Hirsch im Wald, und statt der Lanze schleudert er den Zahlungsbefehl, aber es sind die alten Wallungen aus der Höhle, jene alte Angst und jene alte Wut und jener alte Haß, die des Menschen Hirnrinde nach wie vor peinigen. Dem wirkungsvoll und sinnstiftend zu begegnen, bemüht sich das Christentum mit dem Gebot der Nächstenliebe nun bald 2000 Jahre, und Marxisten sahen im Versuch, einen neuen Menschen zu erziehen, ihre eigene, revolutionäre Antwort auf das Elend der Gesellschaften. Die eine Weltordnung sagte: Gebt dem einzelnen Menschen möglichst viel Freiheit und laßt ihn seine Machthaber wählen und abwählen. Die andere Weltordnung sagte: Das Vermögen der Welt muß neu verteilt werden, es gehöre allein den Arbeitenden; man muß die Völker zwingen, die gerechte

Verteilung der Welt zu besorgen, wie es die großen Lehrmeister Marx und Engels und Lenin forderten

Die Weltordnungen. Dazwischen der einzelne Mensch. Wie sich einer entwikkelt, in jener zufällig bestimmten Weile, in der er ein wenig aufrecht geht - es hängt von so fürchterlich vielen, ja, auch von vielen fürchterlichen Umständen ab. Am Anfang ist immer Hoffnung: Nichts steht fest, niemand kommt als Christ oder Atheist auf die Welt: alle Menschen werden als Bettnässer geboren, egal, wie ihre Wiege beschaffen ist, egal, wo sie steht.

Meine Wiege stand in Vorpommern, im Dorf Jasenitz, unweit vom Oderhaff. Eine flache Wiesenlandschaft. Hoher Himmel. Kein reicher Boden, aber immerhin gut für Kartoffeln. Und: vorbeiziehende Schiffe, die den Wunsch weckten, mitzufahren. Meine frühe Kindheit sind Träume, die von Schiffen fortgezogen werden

Unweit von Gransee besaß der Ministerrat ein Gästehaus, in welchem (Herbst 1989, d. Red.) eine Lebensmöglichkeit für Erich und Margot Honecker geschaffen wurde. Nach entsprechender Vorbereitung fuhr ich nach Lobeda, um mich mit beiden auszusprechen und ihre Zustimmung für den neuen Aufenthaltsort zu erhalten. Noch heute

würde ich sagen, es war ein Gespräch, getragen vom Ernst der Zeit, was immer auch einschloß: Trauer, Furcht, Verunsicherung, das Gefühl von Einsamkeit.

Innerlich war ich sehr aufgewühlt und bewegt. Mit Erich Honecker war mein politisches Leben seit 1949 verknüpft. Zwischen uns entwickelte sich ein Verhältnis, das in der Arbeit Nähe brachte, aber menschlich doch sehr distanziert blieb. Zu größerem Vertrauen konnte er sich nie durchringen, als Parteisekretär blieb ich für ihn stets ein unsicherer Kantonist.

Jetzt saßen wir uns allein gegenüber Ich wollte den festen Fügungen unseres gegenseitigen Verhältnisses auch in dieser Stunde keinesfalls ausweichen, sah aber darin nicht das Anliegen der Begegnung. Mit anderen Worten: Mir fiel das Reden schwer. Erich Honecker sprach leise, die schwere Krankheit nagte an ihm, ich spürte den Blick des Gebrechlichen. Es gab in dieser Stunde keine Diskussion über ein angeblich von mir betriebenes Komplott zu seinem politischen Sturz - wie man es später aber in seinen »Moabiter Notizen« lesen konnte. Ich glaube, uns beiden war bewußt, daß wir den gewachsenen Abstand nicht überwinden konnten, durch kein Gespräch, und schon gar nicht in der Situation, in der wir uns beide nun befanden. Andererseits wollte keiner dem an-

deren die Achtung und den Anstand verweigern.

Beim Hinausgehen war ich einen Moment mit Margot Honecker allein. Sie zeigte deutliches Erstaunen, fast einen Anflug von Erschrecken: Die Kluft, die offenbar zwischen Erich und mir herrsche, habe sie so niemals gesehen

Der Bonner Druck auf Moskau machte den Weg frei für ungehemmten Haß und juristische Verfolgung: Der schon todkranke Erich Honecker zeigte sich vor Gericht als aufrechter Mann; die Sache, für die er sein Leben eingesetzt hatte, vertrat er auch hier

Die Bundesrepublik versagte dem Volk der DDR die Chance, in ganz anderer Weise zu Gericht zu sitzen und die Verfehlungen Honeckers und anderer Funktionäre - unter ihnen wäre auch ich gewesen - zu analysieren. Die moralische Abrechnung wäre gerecht gewesen; da sie in einem öffentlichen Raum unterblieb, war es nur zu logisch, daß sich der angestaute Unmut mancher auch in der Freude darüber entlud, daß Politbüromitglieder vor Gericht kamen. Der staatsanwaltlichen Anmaßung nimmt das nichts. Und am Ende aller juristischen Urteile bleibt die Bestätigung herrschender kapitalistischer Lesart, die man gern ins Volksgemüt sickern läßt: Kommunist zu sein, ist verwerflich; schon die Idee stellt deren Anhänger ins Abseits, ethisch, moralisch, sittlich.

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