»Gesicht 97« beim Kandidaten 98
Über hundert an Politik interessierte Schüler und Studenten bevölkern die harten Stühle der Aula. Obwohl Christian Wulff in Osnabrück einst selbst die Schulbank gedrückt hat und mit einem Dauerlächeln Offenheit demonstrieren will, wirkt er leicht verkrampft. Der forsche Moderator bemerkt Wulffs Verspannung und plädiert in der Vorstellungsrunde für .einen Ortswechsel: »Stellen-wir, uns,,vor die Bühne, das wirkt nicht so steif!« Im Stehen gibt der Kandidat für. den politischen Chef-Posten im Bundesland zwischen Elbe und Weser zunächst Auskunft über Privatleben und Karriere: »Ich, bin zu spät gekommen, weil heute mein Familientag ist. Die privaten Auszeiten sind mir wichtig.« Nach der Klage über den mit Streß verbundenen vollen Terminkalender sucht er Kontakt zum Publikum: »Meine ersten politischen Erfahrungen habe ich als Schülersprecher gemacht.« Neben dem Lokalmatador stehen den Besuchern der Hamburger Oppositionsführer von Beust, die zielstrebige Osnabrücker CDU-Landtagskandidatin Katrin Trost (»Ich habe mein Ingenieurstudium in nur vier Jahren abgeschlossen und
hatte einen Posten im Studentenparlament«) und als Farbtupfer eine 19jährige Schönheitskönigin aus dem emsländischen Haselünne Rede und Antwort. Tanja Hogeback macht gerade ihr Abitur und ist amtierende Zweitplazierte in dem Wettbewerb »Gesicht 97«. Auf ihrer Setkarte ist die Zahlenkombination 84 / 62 / 90 vermerkt. »Ich bin auf der Straße angesprochen worden. Nach mehreren Castings wurde ich unter 195 000 Bewerberinnen ausgewählt.«
Das Thema wird gewechselt. Im Mittelpunkt steht jetzt naturgemäß die Schulund Bildungspolitik. »Wir lehnen Studiengebühren ab. Darauf können Sie sich verlassen!« verspricht Christian Wulff den Jungwählern. Die Angesprochenen quittieren die klare Aussage mit Beifall. Auch die Forderung nach Erhöhung des Bafög-Satzes kommt an. Und überhaupt: Der mit mausgrauem Jackett, blauem Hemd und gestreifter Krawatte gekleidete Kandidat, der eher wie ein hochsemestriger Jura-Student denn ein »junger Wilder« wirkt, taut langsam auf: »Ich habe große Sympathien für die Studentenproteste, bin auch bei einer Demo mitgelaufen«, sagt Wulff im Bemühen, den Jargon seiner Zuhörer zu treffen.
Die Unionspolitiker beklagen unisono, daß immer mehr junge Leute keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben. Deutsch und Religion seien zwar wichtige Unterrichtsfächer in der Berufsschule, betont der Kandidat, aber »warum muß ein Friseur heute mehr über die Kopfhaut wissen als ein Hautarzt?« Parteifreund Ole von Beust, der nicht nur durch seinen eleganten hellen Anzug die bessere Figur an diesem Abend abgibt, pflichtet bei: »Oft sind die Anforderungen für Hauptschüler zu hoch.« Es sei nicht einzusehen, warum Gebäudereiniger sich mit Physik, Chemie und Umweltrecht herumplagen müßten. Die SPD verlange das mit dem Hinweis auf die Globalisierung. »Das ist aber bei diesem Berufsbild Quatsch.«
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