- Politik
- Scheitert Deutschland? - Die Visionen des Arnulf Baring
Eine neoliberale Anwort
Von Siegfried Schwarz
Selten trifft man auf eine solch ungewöhnliche Ballung von Vorwürfen und Klagen über Defizite, Fehler und Versäumnisse deutscher Politik und Wirtschaft wie in dieser Attacke eines prominenten Polemikers. Baring, Zeithistoriker und Politologe an der Freien Universität Berlin, seit langem bekannt für provokante Thesen in Wort und Schrift, entrollt aus seinem neoliberalen Blickwinkel einen schier endlosen Katalog von Mängeln und Gefahren, die unsere Gesellschaft bedrohen.
Als Ursachen hierfür bietet er ein buntes Gemisch: So kritisiert er zwar zutreffend »versäumte Innovationen« und ungerechtfertigte Subventionen in der Volkswirtschaft, listet eine Fülle ungelöster Probleme in der gesamten Gesellschaft auf, die einer sach- und sozialgerechten Bewältigung harren. Sein Hauptaugenmerk allerdings gilt der Frage, ob und inwieweit die Lebensumstände der Mehrheit unseres Volkes auf dem gegenwärtigen Niveau - angesichts weltweiter
wirtschaftlicher Verwerfungen - noch aufrechterhalten werden können.
Ohne die beachtlichen Unternehmensgewinne und die privilegierte Lage der Oberschichten in Deutschland überhaupt zu erwähnen, geraten im Traktat des Autors ausgerechnet die Teile der Bevölkerung in die Schußlinie seiner Kritik, die bereits in den letzten Jahren infolge Reallohnverzichts erhebliche Abstriche an ihrem Lebensniveau haben hinnehmen müssen. Er fügt hinzu: »Unser großzügiges Sozialsystem verdirbt die Arbeitsethik und ist außerdem nicht mehr finanzierbar.«
Bei ostdeutschen Lesern dürften die Passagen des Buches nicht gerade Freude auslösen, in denen der Autor über die »Illusion gleicher Lebensverhältnisse« in unserem gemeinsamen Land referiert, sogar vorschlägt, man möge künftig dem Artikel 106 des Grundgesetzes (der gleiche Lebensbedingungen zum Ziel erhebt) »eine andere, begrenztere Bedeutung geben«.
Anstatt Vorschläge wenigstens für eine partiell weiterführende Annäherung der Lebensumstände zwischen West und Ost zu offerieren, empfiehlt er, »mehr Un-
gleichheit unter den Ländern zu akzeptieren«. Sollte eine Angleichung der ostan die westdeutschen Lebensverhältnisse nicht gelingen, müsse man »bewußt mehr Differenzierung, mehr Regionalismus, mehr Selbständigkeit, ein Sonderbewußtsein der einzelnen Länder fördern.«
Jene »Anregung« gipfelt in der Prognose des Autors, wonach es infolge der jahrzehntelangen Spaltung nach wie vor »zwei deutsche Völker« (!) gebe, »die erst ganz allmählich wieder zusammenwachsen werden, was ein Jahrhundert dauern mag«!
Hingegen kann man der Feststellung Barings kaum widersprechen, daß die politische Klasse sich ihr eigenes Grab schaufele, wenn sie - wie Kohl mit seiner Ankündigung, das Heer der Arbeitslosen bis zum Jahr 2000 halbieren zu wollen bei der Bevölkerung Erwartungen weckt, »denen sie nie und nimmer gerecht werden kann«.
Dem Rezensenten erscheinen die Prioritäten äußerst zweifelhaft und merkwürdig, die der Autor für die zukünftige deutsche Außenpolitik setzt. Er betrachtet den französischen Nachbarn mit tiefem Mißtrauen, nennt das Verhältnis
deutscher Regierungen zu Frankreich »mehr sentimental als rational bestimmt«, kennzeichnet gar das Streben nach Zusammenarbeit mit Paris als ein »Berufsleiden« deutscher Politiker
Hingegen plädiert Baring mit Vehemenz dafür, Deutschland möge sich als »Juniorpartner der USA etablieren«. Angesichts der dichten Verzahnung aller Prozesse vor allem im west- und mitteleuropäischen Raum und der inzwischen gewachsenen deutsch-französischen Bindungen ist der Ratschlag für ein distanziertes Verhältnis zu Paris mehr als nur problematisch.
Als Fazit der Lektüre bleibt: Die Streitschrift ist zwar kein komplettes, systematisch aufbereitetes neoliberales Programm, wohl aber ein Konglomerat, in dem neben zutreffenden Beobachtungen und teilweise auch diskussionswürdigen Thesen mehrheitlich Empfehlungen an die deutsche Politik zu finden sind, die dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit widersprechen und auf einen weiteren Sozialabbau für große Bevölkerungsteile hinauslaufen. Die Ratschläge des Professors sind eine unbrauchbare Rezeptur-Sie würden Deutschland - in letzter Konsequenz - destabilisieren.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.