- Politik
- Daniel Kehlmann - ein großartiger Erzähler
Verbrecher und Versager
Der Rezensent hat eine falsche Prognose gestellt. Nach der enthusiastischen Besprechung eines wahren Zauberbuches, des Debütromans »Beerbohms Vorstellung«, ergab sich die Frage nach der literarischen Zukunft des Jungautors Daniel Kehlmann. Der 1975 in München geborene, in Österreich lebende Fachmann für Zauberei und Mathematik, so schien es dem Rezensenten, werde uns als nächstes mit einer philosophisch-mathematischen Abhandlung kommen. Irrtum. Das nun vorliegende Buch ist eine schmale Sammlung von sechs Erzählungen. An keiner Stelle erfahren wir etwas über deren Entstehungszeit. Die stets mißtrauische Kritik darf vermuten, daß es sich um Fingerübungen handelt, die
vor dem Roman über den genialen Zauberer geschrieben wurden. Aber auch hier zeigt sich die Pranke des Löwen.
Am schwächsten, weil von literarischen Mustern abhängig, scheint mir die Titelerzählung »Unter der Sonne«. Ein gewisser Kramer, Abbild des schwärmerischen jungen Mannes, der einmal Schriftsteller werden will, möchte einem berühmten französischen Dichter seine Verehrung zu Füßen legen. Er hat ihm seit Jahren glühende Briefe geschrieben und nie Antwort bekommen. Nun ist der Meister gestorben. Der Gang zum Friedhof wird für den jungen Mann ein Weg durchs Labyrinth. Als er endlich die Adresse der letzten Ruhestätte hat, sitzt er im falschen Zug. Durch den Tränenflor der Verzweiflung, wie er zu einem romantischen Gleichnis gehört, sieht er: »Das Land flackerte in Schönheit. Und der Ozean strahlte.« - Kehlmanns Er-
zählungen geben keine genauen geographischen Hinweise. Wir sind dennoch in ihnen zu Hause, es ist unsere schöne Welt postkapitalistischer Verhältnisse. Verbrecher und Versager schreiben ihre Geschichten. Die Versager sind auf ihre Art Glücksritter Die Verbrecher frustrierte Psychopathen, von Langeweile und Enttäuschung getrieben. »Bankraub« zeigt das ganze Können dieses Erzählers. Der Angestellte Markus Mehring weiß, daß er weder Karriere machen, noch aus seiner Zweizimmerwohnung herauskommen wird. Da streift ihn die Glücksgöttin: Auf seinem Kontoauszug erscheinen etliche Nullen zuviel. Über Nacht, dank eines Computerfehlers, zum Millionär gemacht, räumt er das imaginäre Konto und macht sich davon in die weite Welt. Wir erfahren auch in diesem Text nicht, »wie es ausgeht«. Der väterliche Bankdirektor, der ihm das Geldköfferchen aushändigt, scheint das Spiel zu durchschauen. Es wird am Ende so ausgehen wie im bekannten Drama »Das Leben ist Traum« - Interpol erscheint. Schon beim Abflug vermißt der Hochstapler die Bequemlichkeiten eingefahrenen Alltags.
Die Erzählungen »Töten« und »Pyr« korrespondieren im Zwang ihrer Protagonisten, Böses zu tun. Einmal ist es ein Schuljunge, der von einer Brücke einen Stein auf ein Auto wirft und so einen Men-
schen tötet, indirekt, aus Frust, aus Langeweile. Das andere Mal zündet ein Fachmann für Fernsehtechnik die Häuser an, deren Antennen und Satellitenschüsseln er zuvor montiert hat. Paarweise zueinander lassen sich auch die Erzählungen »Auflösung« und »Schnee« verstehen. Ein Mann verliert seinen Verstand und hört auf zu leben, sein Gesicht löst sich auf, »als wäre es nie in der Welt gewesen«. Jahrelang hat er auf Kongressen alle Reden auf Band aufgenommen, von Berufs wegen; nun übernimmt ein Apparat seine Arbeit. Und ins Nichts einer Schneeverwehung entläßt uns die letzte Erzählung »Schnee«. Ein Geschäftsmann, auf dem Weg nach Hause. Es schneit, als ginge die Welt unter. Er muß sein Auto verlassen, und seine letzte Empfindung vor dem Untergang: »Er war noch nie so glücklich gewesen.«
Kehlmanns Erzählungen machen den Leser auf eine altmodische Art glücklich. Sie befreien uns von den Ängsten des Alltags, indem sie diese genau und' scheinbar teilnahmslos aufzeigen. Daß der Autor ein großartiger Erzähler ist, ist eine Feststellung, die der Rezensent nicht zu widerrufen haben wird.
Klassiker überarbeitet und neu aufgelegt: »Wir kochen gut« vom Buchverlag für die Frau bietet über 1000 Rezepte mit Tradition - vom Brotaufstrich bis zum Festtagsbraten. Dieses Buch sollte auch im Haushalt junger Leute nicht fehlen (224 S., geb., 16,80 DM).
Feine leichte Küche, raffinierte Köstlichkeiten: »Rezepte für den Frühling« von Joanne Weir mit höchst dekorativen farbigen Fotos (Time-Life, 127 S., geb., 39,90 DM).
Ungeahnte Möglichkeiten, schöpferisch tätig zu sein: Der »Salat-Atlas« von Hermann Jakob enthält 458 Rezepte - dazu viele Fotos, denn das Auge ißt mit. Ein prächtiges Buch und ein »Grundsatzwerk« für Gastronomen (Matthaes, 208 S., geb., 84 DM).
Witzig aufgemacht: »Eier-lei. Was Hühner empfehlen« mit 200 Gerichten, die schnell zuzubereiten sind (Tomus, 96 S., geb., 24,80 DM).
Rarität im Reprint. Das »Kochbüchlein für die Puppenküche« der Lovica von Pröpper stammt von 1880 (Hinstorff, 200 S., geb., 19,50 DM).
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.