Von Walter Hollstein
Geht es uns Männern wirklich so schlecht? 1970 öffnete in Kalifornien das »Berkely Men's Centre«. Das war eine Weltpremiere. Die Gründer dieses ersten Männerzentrums formulierten in einem Manifest: »Wir als Männer wollen unsere Menschlichkeit wiederhaben. Wir wollen nicht mehr länger in Anstrengung und Wettbewerb stehen, um ein unmögliches, unterdrückendes, männliches Image zu “ erreichen - stark, schweigsam, cool, gefühllos, erfolgreich, Beherrscher der Frauen, Führer der Männer, reich, brillant, athletisch und heavy ... Wir möchten uns selbst gernhaben, wir möchten uns gutfühlen und unsere Sinnlichkeit, unsere Gefühle, unseren Intellekt und unseren Alltag zufrieden erleben.«
?? Seither geht es uns noch viel schlechter.
Die wachsende Auseinandersetzung mit der Männlichkeit verdeutlichte' erst unsere Mängel und Macken. In den USA , konstatierten Psychologen und Soziologen wie Herb Goldberg, Warren Farrell, Marc F. Fasteau und Joseph H. Pleck
? schon vor geraumer Zeit, daß wir acht Jahre früher sterben als die Frauen, daß
? «wir im Durchschnitt auch viel kränker sind als sie, daß wir ständig im Zwang (.stehen, größere Risiken einzugehen und ;; Bruder Tod all überall unser Begleiter, ist. Nicht zuletzt: Fünf Mal öfter als Frauen sind wir die Opfer unserer eigenen Männergewalt. Mit dem schroffen Pragmatismus der Amerikaner brachte Herb Goldberg das männliche Schicksal auf den Begriff: »Vital mit 20, eine Maschine mit 30, ausgebrannt mit 40.«
Je systematischer unsere Männlichkeit „ erforscht wurde, desto grausamerzeigten sich die Ergebnisse.
Die traditionelle Männerrolle besteht aus Leistung, Härte, Macht, Distanz, Konkurrenz, Gefühllosigkeit, Kampf und Gewalt. James M. O'Neil, der in den USA Hunderte von Untersuchungen über den männlichen Erziehungsprozeß zusammengefaßt hat, kommt zu folgendem Ergebnis: »Männer werden sozialisiert, um wettbewerbsbetont, leistungsorientiert, kompetent zu sein... Männer glauben, daß persönliches Glück und Sicherheit von harter Arbeit, Erfolg und Leistung abhängig sind.« Bereits achtjährige Jungen haben diese Maxime verinnerlicht. Sie wissen, daß sie kämpfen müssen, sich anstrengen und daß sie nicht schwach und passiv sein dürfen, wenn sie Männer ?? werden wollen, die sie werden müssen.
? Die New Yorker Wissenschaftler Robert Brannon und Deborah David haben das männliche Leitbild mit Humor und der lapidaren Treffsicherheit der Amerikaner auf die vierteilige Kurzformel »no sissy stuff«, »the big wheel«, »the sturdy oak« und »giv'em hell« gebracht. Damit ist gemeint: »No sissy stuff«: Der Knabe und spätere Mann muß alles vermeiden, was auch nur den Anschein des Mädchenhaften, Weichen und Weiblichen hat. Seine männliche Identität erreicht er nur in klarer Absetzung vom anderen Geschlecht. »The big wheel«: Der Knabe und spätere Mann muß erfolgreich sein. Erfolg stellt sich ein über Leistung, Konkurrenz und Kampf. Erfolg garantiert Position, Status und Statussymbole. Nur wer Erfolg hat, ist ein richtiger Mann. »The sturdy oak«: Der Knabe und spätere Mann muß wie eine Eiche im Leben verwurzelt sein. Er muß seinen Mann stehen, hart, zäh, unerschütterlich, jedem Sturme trotzend, sich immer wieder aufrichtend, unbesiegbar. »Giv'em hell«: Der Knabe und spätere Mann ist wie ein Pionier im Wilden Westen oder ein Held auf dem Baseball-Feld. Er wagt alles, setzt
sich ein, ist aggressiv, mutig, heftig und wild; er ist der-»winner«, der Sieger
Dabei besteht kein Zweifel daran, daß Männer als liebende, zärtliche und polymorph sinnliche Kinder eine erste Zeit ihres Lebens verbringen. Ebensowenig kann Zweifel bestehen, daß Männer wie Frauen Glück, Liebe und Erfüllung von ihrer Existenz erwarten. Was hindert die Männer daran? Die Antwort lautet: ihre Erziehung zur Männlichkeit, innerhalb derer sie gezwungen sind, ihre weiblichen Anteile zu verleugnen.
Mit Recht hat Nancy Chodorow darauf hingewiesen, daß männliche Identität sich insofern negativ definiert, als sie sich von dem abgrenzen muß, was als weiblich gilt. Männlichkeit ist erkauft durch den Verzicht auf weibliche Eigenschaften.
Frühzeitig wird der Mann in diesen gesellschaftlichen Käfig von Männlichkeit gesteckt. Im Rahmen seiner Familie lernt der kleine Junge, was männlich ist. Die Männerforschung belegt, daß wir schon als Buben auf Leistung und Erfolg getrimmt werden. Entgegen dem Tatbestand, daß weibliche Neugeborene viel weniger anfällig sind, behandeln vor allem Väter ihre Söhne kräftiger und gröber als ihre Töchter. Von Anbeginn konfrontieren Väter ihre Söhne mit einer harten Lebenswirklichkeit von Leistung, Kampf und Ausdauer.
Geschlechtsspezifische Aktivitäten von Jungen werden viel deutlicher gefördert als jene von Mädchen; Jungen werden aber auch viel entschiedener für geschlechtsunspezifisches Verhalten bestraft.
Die Erziehung zur Männlichkeit verlangt die Härtedressur der Buben, denen körperliche Kontakte, Schmusen und Küssen frühzeitig abtrainiert werden. Der Männerforscher Bernie Zilbergeld weist daraufhin, daß Mütter Zärtlichkeiten bei ihren Söhnen gewöhnlich viel früher einstellen als bei ihren Töchtern. Sie haben Angst, ihre Söhne könnten durch zuviel »Bemuttern« verweichlichen. Ein richtiger Mann braucht nicht umarmt oder in
die Arme genommen zu werden. Ebensosehr wird von den Buben verlangt, daß sie ihre Emotionen kontrollieren und insbesondere Gefühle von Schwäche, Schmerz, Traurigkeit und Nachgiebigkeit unterdrücken.
Der andere Mann erscheint bereits als kleiner Junge vor allem als Gegner und Konkurrent, und dieses Kampfbild verfestigt sich in der Schule, in der Lehre, in der Universität, im Militär, im Sportclub, im Beruf. Wenn aber der andere Junge primär mein Konkurrent ist, dann muß ich ihm mit Vorsicht, Mißtrauen, einer Maske von Höflichkeit und Undurchschaubarkeit entgegentreten, dann muß ich eben wie Humphrey Bogart das berühmte Pokerface aufsetzen, dann muß ich verdammt cool und berechnend sein und immer überlegen und kalkulieren und stets einen Schritt schneller sein als der andere. Und das hat weitere Folgen: Ich darf dem anderen nicht meine wahren Gedanken sagen; ich muß meine Authentizität verstecken; ich muß eine Rolle spielen; ich muß meine Gefühle einschließen, und ich muß immer stark, sicher und souverän sein. Das wiederum heißt: ich darf meine Schwächen und Fehler nicht zeigen, ja ich darf eigentlich davon gar nichts haben; sonst bin ich kein Mann.
So läßt sich zusammenfassen: Während Mädchen in der Einheit von Fühlen und Lernen aufwachsen, entwickeln Knaben eine positionale Identifizierung mit Aspekten der männlichen Rolle. Bei ihnen ist die Verbindung zwischen affektiven Prozessen und dem Rollenlernen zerrissen.
Die Folge des Geschilderten ist, was ich als das männliche Syndrom bezeichnen möchte. Das heißt: Fixierung auf äu-ßere Worte wie Erfolg, Geld, Status und Statussymbole; eine Identität, die sich exklusiv über Arbeit und deren Gratifikationen bestimmt. Das bedeutet dann gleichzeitig: Ignoranz, wer man wirklich ist, innere Orientierungslosigkeit und Leere, also der Mann ohne innere Eigen-
Schäften. Diese Leere wird mit diversen Süchten kompensiert: Machtsucht, Arbeitssucht, Sportsucht, Sucht nach Gewalttätigkeit, Sexsucht, Drogenabhängigkeit und Alkoholismus.
In Kindheit und Jugend erlernte Männlichkeit muß in der Arbeitswelt bewiesen werden. Seine Definition erwirbt der Mann, arbeitend und sich durchsetzend, erst in der Distanzierung von der Privatsphäre und den dort vorherrschenden Werten der Intimität, Emotionalität und Nähe. Der Mann wird gemessen an jenen Leistungs- und Erfolgsstandards, die die Gesellschaft ihm gesetzt hat. Erfüllt er sie, ist er ein Mann; erfüllt er sie nicht, wird er als Versager tituliert. Sein Wert als Mann hängt vom erworbenen Status, den Statussymbolen und seinem Rang in der Hierarchie ab.
Das maskuline Dilemma in diesem Zusammenhang entsteht dadurch, daß nur wenige Männer die obersten Stufen dieser Erfolgsleiter erreichen. In den deutschsprachigen Ländern sind es jeweils einige hundert. Die Millionen anderen sind lohnabhängig, Befehlsempfänger, ausführende Organe ihrer Vorgesetzten. Dementsprechend weisen alle internationalen Untersuchungen aus, daß die übergroße Mehrheit der Männer den gesellschaftlichen Vorstellungen von Karriere und Erfolg gar nicht gerecht werden kann.
Die Folge ist andauernder Streß. Die Männerforschung geht so weit, traditionelle Männlichkeit als »lebensbedrohend« zu definieren. Viele medizinische Untersuchungen bestätigen diesen Befund: Der moderne Mann leidet an Isolationsgefühlen, Sinnverlust, Schuldkomplexen, Versagensängsten, Süchten wie Alkoholismus und Nikotin, an Hoffnungslosigkeit, Selbstverachtung, latenter Depression usw. Männer sterben in den Industrienationen acht Jahre früher als Frauen. Die Männerforschung bezeichnet uns inzwischen in gesundheitspolitischer Optik als das schwache Geschlecht. Männer haben kaum Freunde, verfügen über kein soziales Netz, erreichen wichtige Lebensziele wie Zufriedenheit, Sinn oder Selbstverwirklichung nicht.
Statt dessen bewegen wir uns im Rahmen von Zwanghaftigkeit. Empirisch belegt sind sechs Zwänge, die unserer traditionellen Männerrolle geradezu inhärent sind. Der amerikanische Männerforscher James M. O'Neil hat diese Zwänge besonders deutlich belegt, die auch für den deutschsprachigen Raum nachweisbar sind.
1. Das eingeschränkte Gefühlsleben. Männer sind im Zwang emotionaler Kontrolle gebunden. Als Folge solch einge-
schränkter Emotionalität entstehen Feindseligkeit und Wut, die sich - aufgestaut - nicht selten explosionsartig in Aggressivität, Männergewalt und Vergewaltigung entladen.
2. Die Homophobie. Männer haben Angst vor der Nähe zu anderen Männern. Diese Angst fördert - als Abwehr - ein autoritäres, rigides und intolerantes Verhalten.
3. Die Kontroll-, Macht- und Wettbewerbszwänge. Männer lernen früh, ihren Selbstwert über Erfolg zu bestimmen. Kontrolle, Macht und Wettbewerb sind Garanten dieses Erfolgs. Umgekehrt schließen sie Ethos, Mitmenschlichkeit, Liebe und Fürsorge aus.
4. Das gehemmte sexuelle und affektive Verhalten. Männer spalten ihre eigene Sexualität von Zärtlichkeit und Emotionalität ab und erleben sie unter dem Aspekt von Leistung und Dominanz. Dabei wird der Mann sexuell zum Opfer seiner eigenen Obsession von Erfolg und Macht.
5. Die Sucht nach Leistung und Erfolg als die zwanghafte Notwendigkeit, das eigene Mannsein immer wieder neu erfahrbar zu machen und zu messen. Männer beziehen Selbstwertgefühl und Lebenssinn nur über ihre Arbeit und deren Gratifikationen. Ihr Leben ist Tun und Haben, nicht Lassen und Sein.
6. Die unsorgsame Gesundheitsfrage. Männer mißachten körperliche Warnsignale und sind nur schlecht in der Lage, zu entspannen. Körperpflege, psychische Hygiene und medizinische Vorsorge werden als unmännlich betrachtet. Schon der bloße Gang zum Arzt wird als Eingeständnis von männlicher Schwäche gewertet. Ein richtiger Mann braucht keine Hilfe.
Hinzu kommt ein Weiteres: Wir Männer sind alle - insofern wir nicht ganz jung sind - für eine Welt erzogen worden, in der die Regeln klar waren. Wir würden uns der Arbeit, der Karriere und der Macht annehmen, und die Frauen würden uns dabei unterstützen. Sorgen, Gefühle und Kinder waren an die Frauen zu delegieren.
Nun ist vielleicht nicht alles anders, aber doch vieles, und was noch gleich ist, wird mit Sicherheit anders werden. Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern hat sich grundsätzlich verändert. Frauen sind inzwischen unsere Konkurrentinnen auf dem Arbeitsmarkt, zunehmend auch unsere Chefinnen. Erwerbstätige Frauen verlangen eine neue Arbeitsteilung zu Hause: Kindererziehung und Hausarbeit werden sukzessive männliche Tätigkeitsbereiche. Schließlich sind wir nun für unsere Sorgen und Gefühle selbst verantwortlich; wir können sie nicht mehr lapidar an die Frauen abtreten.
Damit nicht genug: Wir müssen nicht nur uns anders wahrnehmen, sondern vor allem die Frauen. Aus der Dienerin ist die Partnerin geworden, die nicht nur gibt, sondern auch fordert. Die erwerbstätige Frau stellt die gleichen Ansprüche an uns wie wir früher einseitig an sie. Das heißt: Wir müssen unsere Monologe einstellen und zuhören lernen; wir dürfen nicht mehr Sorgen und Probleme abladen, sondern müssen lernen, sie zu teilen. Wir dürfen nicht mehr egozentrisch Trost erwarten, sondern müssen auch Trost spenden. Wir müssen kooperativ werden; wir müssen auf die Bedürfnisse der Frauen eingehen - bis hinein in die Sexualität.
Konnten sich noch vor wenigen Jahrzehnten die Männer kritiklos mit der männlichen Rolle und ihrem Rollenbild identifizieren, so erscheint Männlichkeit nun als ein Konstrukt, mit dem Frauen, Frauenbewegung, Wissenschaften, Medien und in gewisser Weise die Öffentlichkeit überhaupt nur noch negative Assoziationen verbinden.
Einstmals positive Qualitäten von Mannsein werden mittlerweile gesellschaftlich umgedeutet. Ehemals männlicher Mut wird heute als männliche Aggressivität denunziert; aus Leistungswillen wird Karrierismus, aus Durchsetzungsvermögen männliche Herrschsucht, und das, was einst als männliche Autonomie hochgelobt war, wird nun kritisiert als die männliche Unfähigkeit zur Nähe und als männliche Angst davor Die »ideologische« Verunsicherung ist also quasi total.
So hat Männerforschung in den vergangenen Jahren einen neuen und anderen Blick auf die moderne Männlichkeit vorbereitet. Es ist eine dialektische Optik. Männer sind sozial und politisch noch immer das privilegierte Geschlecht. Aber dafür haben sie einen hohen Preis an Lebensqualität, Streß und Krankheit zu zahlen. Diese Opferseite männlicher Täterdynamik hat der Feminismus nicht zu sehen vermocht.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.