- Politik
- Deutschlands oberster Arbeitsloser, Dr. Klaus Grehn, ist ein Langstreckenläufer
Hoffnungslos zuversichtlich
Jemand schrieb, er habe warme Augen. Eine andere Journalistin nannte die selben Augen kühl - er weiß heute noch, welche Berliner Zeitung das veröffentlichte. Mit 58 Jahren ist Dr. Klaus Grehn immer noch verletzlich.
Halten wir fest: Seine Augen sind graublau. Graublaue Augen in einem Gesicht, hager wie das eines Langstreckenläufers. Das Gesicht eines Mannes, der auf der Strecke den letzten Tropfen Schweiß ausschwitzt, bis er nur noch Charakter ist, der weiterläuft, Meter um Meter einen Fuß vor den anderen setzt. Zu diesem Zeitpunkt ahne ich nicht, wie exakt der Strich manchmal ist, mit dem die Natur zeichnet. Später werde ich nicht überrascht sein: Er ist wirklich Langstrekkenläufer In den Sechzigern lief er mit Hans Grodotzki, unter 30 Minuten die 10 000 Meter Seine heutige Strecke ist länger
An den Start für die größte Distanz seines Lebens ging er 1990. Kaum anzunehmen, daß ihm das an jenem 18. Januar klar war Völlig auszuschließen ist, daß er loslief, um sich einen Platz auf dem Siegertreppchen zu sichern. Denn der Lauf, den er begann, war zum damaligen Zeitpunkt ausgesprochen unpopulär- Gerade hatten am Brandenburger Tor mehrere 100 000 Menschen aus Ost und West Sylvester gefeiert. Gorbatschow hatte vom Schlüsseljahr für die Abrüstung gesprochen, das Wohnungsbaukombinat Magdeburg wollte künftig variantenreich bauen, Honekkers Haftfähigkeit wurde geprüft, Udo Lindenberg begab sich endlich auf DDR-Tournee, Modrow erklärte, die Sparguthaben der Bevölkerung seien gesichert, eine Währungsunion sei nicht vorgesehen, erste Betriebsräte wurden gegründet und das Reisegesetz verabschiedet.
Zu dieser Zeit hatte Klaus Grehn bis in die Nachtstunden zu tun. Noch arbeitete er als Soziologe an der Gewerkschaftshochschule Bernau, dort waren unter dem Wendeschock drei Forschungsgruppen gebildet worden. Die erste sollte Ergebnisse zur Integration der Ausländer in der DDR liefern, die zweite das leidige Phänomen »Lets go West« aufklären helfen, die dritte, für die sich Grehn entschied, eine erste Analyse zur Arbeitslosigkeit erstellen, um »freigesetzte Arbeitskräfte adäquat wiedereinzusetzen«. Am 18. Januar schaltete er mit ein paar Wissenschaftlerkollegen eine Anzeige im »Neuen Deutschland«: Betroffene sollten sich bei ihm melden. Als er abends nach Hause kam, standen sie Schlange vor seiner Tür Er ist heute noch stolz, wenn er davon spricht: »Wir gaben Fragebögen aus, und in allerkürzester Zeit hatten wir einen Überblick, was sich wo im Lande tat. Wir wußten, wer Blaue Briefe verschickte.« Als er damit an die Presse ging, hagelte es natürlich Dementis: Noch standen die Kombinatsdirektoren öffentlich in sozialer Pflicht, noch widersprach der Moralkodex ihrem allzuschnell entdeckten Selbstverständnis als Unternehmer Das Licht, das Grehn auf sie richtete, störte. Auch, daß er das Modewort von der 40 Jahre lang verdeckten Arbeitslosigkeit in der DDR ablehnte: »Was heißt verdeckt? Dann hätte man in allen Ländern der Marktwirtschaft, die weniger entwickelt waren als die Bundesrepublik, von diesem Phänomen reden müssen. Wie hoch wäre das beispielsweise bei den Eskimos gewesen? Man kann seinen eigenen Maßstab nicht an die ganze Welt anlegen.«
Es war keine gute Zeit, um die Laufschuhe anzuziehen. Warum er es trotzdem tat? Zwei Gründe scheinen im nachhinein möglich. Der erste, der zweifellos ins Gewicht fällt: Kurze Strecken reizten ihn nie. Von allen Wegen im Leben wählt Grehn immer den anstrengendsten: Nach der Lehre holte er das Abi an der ABF
nach, beim Studium brach er eine Debatte über die Versorgungslage in der DDR vom Zaum, womit er sich umgehend die Relegierung einhandelte. Später studierte er extern Philosophie und Soziologie und promovierte zum Dr phil. Als er schließlich die. B einreichte, fiel sie bei der Verteidigung durch, weil FDGB-Vizechefin Töpfer der Komission bedeutet hatte: Grehn bei uns Dozent? Der nie!
Der zweite Grund, der, den er selbst nennt: Er fühlte sich verantwortlich. Als einer, der mit sieben Geschwistern das Teilen lernte, fühlte er sich verantwortlich für jene Leute, die sich bei ihm meldeten und die von ihm Hilfe wollten. Daß sie keine Lobby finden würden, war für Grehn schon abzusehen. »Wir mußten diesen Verband gründen.«
Acht Jahre später, am 20. Juni 1998, zeigt das Thermometer in Berlin mittags 25 Grad. In Prenzlauer Berg, vor dem Velodrom, steigt ein hagerer Mann auf das Podium. Dann spricht er, der Gründer und Präsident des deutschen Arbeitslosenverbandes. Erstmals seit '89 sind wieder Zehntausende aufgestanden, »für eine andere Politik«. Die bislang erstaunlichste Demonstration in einem Land, das die Arbeitslosen inzwischen nach Millionen rechnet. Während die offizielle Statistik 4,2 Millionen nennt, redet Grehn von 7,5 - in diese Zahl schließt er die ABM ein, nur »geparkte Arbeitslose«, solange man sie nicht dauerhaft in einem staatlich geförderten Sektor beschäftigt. Auf die 7,5 Millionen schlägt er sodann eine Dunkelziffer, »diejenigen, die sich nirgends mehr melden«. Dazu packt er die 6 Millionen in 620-Mark-Jobs (West) und 520-Mark-Jobs (Ost), »von denen die Politik annimmt, sie würden das ja gern machen«. Plus die »Opfer durch Nähe« -
Eltern und Partner, die nach einem viertel Jahr die Symptome des arbeitslosen Familienmitglieds annehmen: starke Depressivität und psychosomatische Anfälligkeit. Alles in allem, addiert Grehn, sind es also 20 Millionen, die am sozialen Rand leben. Bei 80 Millionen Bundesbürgern beträfe das jeden Vierten ... Längst wird Grehn, der als Lobbyist der »Abgewickelten«, »Warteschleifler« und »Gesundzuschrumpfenden« antrat, nicht mehr als Scharfmacher gehandelt. Inzwischen steht er für die potentiell größte Klientel der Republik.
Falls es ihm Genugtuung verschafft, daß ihm die Entwicklung recht gab, dann sieht man es ihm jedenfalls nicht an. Er ist um mehr als acht Jahre gealtert und wirkt augenscheinlich elend - ein Bypass müßte gelegt werden. Die Jahre hatten ihren Preis. Sie haben ihm Illusionen geraubt. Er glaubt nicht mehr, daß sich Politik nach wissenschaftlicher Einsicht richtet. »Man nimmt sie einfach nicht zur Kenntnis.« Damals war es de Maiziere, der sein Positionspapier »zur Stabilisierung der Wirtschaft und Gewährleistung der sozialen Sicherheit« irgendwo ablegte: »Darauf erhielt ich nie 'ne Antwort.« Später war es »Herr Krause, der seine Pflicht, die Interessen der Ostdeutschen zu vertreten, wider besseres Wissen nicht erfüllte: Jeder weiß doch, daß eine Ehe, in der einer den andern vereinnahmt, auf Dauer einfach nicht funktioniert.« Heute liegt es für Grehn auf der Hand, daß »sich eine Gesellschaft, die nur nach Geld strebt, letztlich selbst zur Disposition stellt«. Und daß das alle wissen müßten. Die Vision der Eliten, im nächsten Jahrtausend werde sich die Gesellschaft weltweit in 20 Prozent, die produzieren, und 80 Prozent, die von Produktion und Konsum ausgeschlossen sind, spalten, hält er für unreal und verheerend: »Die
80 Prozent werden sich wehren. Es wird furchtbare, blutige Auseinandersetzungen um die Verteilung der Arbeit geben. Nicht wie früher die Weberaufstände, nein, Aggression und Brutalisierung werden der postmoderne Ausdruck für den Verlust von sozialem Zusammenhalt sein.«
Daß die Politik nicht reagiert, grenzt für Grehn schon an Beklopptheit. »Naja«, fragt er, »wer nie Hunger hatte, wie soll der subversiv werden?«
Ein kleiner alter Arbeiter läuft gebeugt über den Platz, die rote Fahne geschultert wie ein Gewehr Eine dicke Frau in Kanariengelb mit viel Golddouble um den Hals trägt ein Schild »Besteuert die Millionäre.« Grehn ruft. »Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!« Bei Demos muß man zündend reden, sonst hört keiner zu, glaubt er Dabei wirft er diesen Blick in die Menge, so hoffnungslos zuver sichtlich und hingegeben, daß es weh tut. Als wären ein paar 10 000 Menschen von 20 Millionen nicht nur ein Klacks, als könnten sie wirklich jemanden erschrekken. Doch je länger die Strecke wird, desto länger scheint sein Atem: »Wer weiß schon, wer den Anstoß gab, wer beteiligt war und wer nicht, wenn sich doch mal Erfolg einstellt?«
Grehn, der Langstreckenläufer, ist zäh. Tatsächlich zählt sein Verband nicht mehr als 6000 Mitglieder Ein Verband, der jeden Monat 80 bis 100 000 hilft. Grehn mußte erfahren, daß »selbst Leute, die erheblichen Vorteil durch uns hatten, dann nicht eingetreten sind«. Selbst das Lächeln, das er versucht, verbirgt nicht ganz, daß er enttäuscht ist. Doch gleich baut er sich wieder auf. »So ist das«, sagt er, »so ist der Mensch.« Und der Arbeitslose erst recht. Schelte kommt
nicht über seine Lippen. Im Gegenteil, die letzten acht Jahre haben ihn mit den Verlieren dieser Welt sozusagen verschweißt, acht Jahre lang hat er die Welt aus ihrer Perspektive betrachtet, und nun ist er ganz Partei: Wer arbeitslos ist, der wolle nicht noch eine Mitgliedskarte haben, die ihm diesen Makel bescheinigt. Da er inzwischen selbst arbeitslos ist, sieht er, was in den Warteräumen und Fluren der Arbeitsämter los ist. »Wenn da schon zwei auf den Stühlen sitzen, stellt sich der Dritte weitab in die Ecke. Man redet nicht, man guckt nach unten. Arbeitslosigkeit vereinzelt. Es braucht einen enormen Impuls, um ruhende Massen zu bewegen.«
Wie subversiv ist er wirklich, der Mann, der bei denen, die er vertritt, auch das Stillhalten entschuldigt? Nein, sagt er, er entschuldige nicht, er verstehe lediglich. Und subversiv sein heiße nicht, blindwütig zerstören zu wollen, sondern gerade das zu verhindern - es heiße, eine menschliche Gesellschaft lebensfähig zu halten. Insofern sei der Subversive heute nur der Realist.
Wie realistisch ist der Mann, der soziale Gerechtigkeit fordert? Der das Ende der Arbeitsgesellschaft nicht akzeptiert, sondern nur vom Ende der »traditionellen Arbeitsgesellschaft« spricht? Er hat einen ganzen Sack voll Konzepte, den er auch begeistert auskippt, wenn man ihm Gelegenheit gibt: Zunächst müßten alle jene Felder zu bezahlter Erwerbsarbeit werden, die man bisher vernachlässigt, beispielsweise die Ökologie. Diese Felder müßte man eine Weile staatlich stützen - »Der ganze öffentliche Sektor, Beamtentum und Politiker, werden ja staatlich subventioniert, was niemand belastend findet!« - und zum ersten Arbeitsmarkt hinführen. Dann würde er Arbeit und Einkommen als Existenzgrundlage entkoppeln - jeder bekäme ein Minimum, das den Bedarf an Kultur einschlösse. Auch Reproduktionsarbeit würde bezahlt, täglich vier Stunden in der Familie. Daß Deutschland kein Geld hat, glaubt er nicht. »Ich bitte Sie, bei uns liegen 5,2 Billionen Mark Spareinlagen auf den Konten! Die hohen Guthaben muß man versteuern.« Auf die drei Billionen Mark, die demnächst vererbt werden, würde er ebenfalls Steuern erheben - auf eine Milliarde 90 Prozent, dann blieben noch 100 000 Millionen, die doch wohl genug waren ... Sein Realismus grenzt an Utopia. Er weiß es und hat wieder diesen hoffnungslos zuversichtlichen Blick drauf: »Ich kenne Leute aus Unternehmerkreisen, die sagen selbst, so geht es nicht weiter «
Vor drei Jahren hat er der Hauptstadt, die »ein Tollhaus geworden ist«, den Rükken gekehrt, um in ein Dorf in der Nähe von Senftenberg zu ziehen. Jetzt lebt er mit seiner Frau, die eine Kanzlei gegründet hat und acht Anwälte beschäftigt, zwischen Autobahn, Feldern und Wald. Hier haben sie ein Haus gebaut. Ein schönes Haus mit Sauna, Kamin, viel warmem Holz und geradem Blick auf ein Spalier von Apfelbäumen. »Ich muß mich dafür nicht schämen«, meint Grehn, »wir haben einige Schulden gemacht und das andere ehrlich erarbeitet.«
Deutschlands oberster Arbeitsloser könnte sich zurücklehnen, ein Buch lesen oder eins schreiben. Oder er könnte ins Krankenhaus gehen. Er glaubt, daß er dazu noch keine Zeit hat. »Gewiß gibt es Leute, die leben länger Aber haben sie richtig gelebt?« Was er unter »richtig leben« versteht, trug er neulich in einen Fragebogen des Feuilletons dieser Zeitung ein: Der Mensch lebe, um ethische und moralische Normen zu erfüllen - der Starke solle dem Schwachen helfen, der Glückliche dem Unglücklichen, der Reiche dem Armen, der Gesunde dem Kranken, der Erwachsene dem Kind, der Wissende dem Unwissenden, der Junge dem Alten und der Satte dem Hungrigen. Irgendwie klingt selbst Bekanntes bei ihm, als höre man es zum ersten Mal; vielleicht hatte man es ja vergessen.
Nun läuft er also von Senftenberg aus. Läßt das Arbeitsamt ihn von der Leine, fährt er nach Glasgow oder Brüssel, wo sich das Europäische Netzwerk der Arbeitslosenverbände trifft, dessen Präsident er ist - pro Jahr legt er locker eine Strecke von 100 000 Kilometern zurück. Nach zwei schweren Unfällen, die er nur mit Glück überlebte, wiegt er sich neuerdings in dem Glauben, Narrenfreiheit zu genießen. Deshalb habe er sich entschlossen, auf der Liste der PDS für den Bundestag zu kandidieren. Ein entsprechendes Angebot hätten ihm zuvor bereits andere Parteien gemacht, »doch da hätte ich Mitglied werden müssen. Und bei der PDS steht alles, was ich denke, im Programm«. Warum er nicht Mitglied wird ? Grehn hat darüber nachgedacht: »Wenn ich mich an eine Partei binde, nehmen das die anderen übel. Der Verband kriegte es zu spüren.«
Langstreckenläufer bleiben einsam.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.