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  • Politik
  • ? Seeunfälle der zivilen DDR-Schiffahrt

Freitags und in der »Hundewache«

  • Dieter Flohr
  • Lesedauer: 4 Min.

Am 6. Februar 1957 verließ das Küstenmotorschiff MS »Stralsund« (1106 BRT) mit einer Ladung Kali den Hafen Wismar mit Zielhafen in England. In der Nordsee kam starker Wellengang auf. Am anderen Morgen gegen 4.00 Uhr erhielt das Schiff plötzlich 25 Grad Schlagseite nach Backbord. Als im vorderen Laderaum ein Wassereinbruch festgestellt wurde, setzte der Kapitän Notsignale ab. Obwohl der Wind abflaute und das Schiff weiterhin schwamm, begab sich die Besatzung gegen 16 Uhr in die Boote. Um 19 Uhr traf der britische Trawler »Olvina« ein und übernahm die Ausgebooteten. Um 20 Uhr versank MS »Stralsund«. Eine Havariekommission bezeichnete das Verhalten des Kapitäns als unwürdig. Der Kampf gegen das eindringende Seewasser hätte auf jeden Fall aufgenommen werden müssen. Vielleicht

fehlten damals noch Erfahrungen und Training, wie man an Bord Havariesituationen entschlossen begegnen kann.

Für die DDR-Seefahrt war der Verlust der »Stralsund« der erste spektakuläre Seeunfall in ihrer jungen Geschichte. Bis 1990 sollte sie noch von zahlreichen Vorkommnissen der unterschiedlichsten Art erschüttert werden. Schiffe kollidierten, liefen auf Grund, hatten Technikausfälle, brannten, kenterten, versanken im Meer. Insgesamt 180 Menschenleben waren zu beklagen. Die Seekammer in Rostock verhandelte 2423 Fälle. Doch die Information der Öffentlichkeit erfolgte aus Staatsräson, wie immer bei solchen Unglücksfällen, lediglich über knapp gefaßte ADN-Meldungen.

Zwischen 1950 und 1990 gab es drei zivile DDR-Flotten. Insgesamt 97 Hochsee-Fischereifahrzeuge und 127 Schiffe der Technischen Flotte standen im Einsatz. Sie wurden von gut ausgebildeten Besatzungen geführt, doch ist Seefahrt

seit altersher auch mit Schiffbruch und Untergang verbunden. Die überraschende Erkenntnis von Friedrich Elchlepp und Manfred Kretzschmar nach akribischem Studium der Seeunfälle der zivilen DDR-Schiffahrt: Zu den meisten Unfällen kam es an Freitagen und in der »Hundewache« nach Mitternacht.

Die Ursachen für Unfälle sind so vielfältig wie das Leben selbst. Ani 18. September 1967 bringt der Frachter »Fiete Schulze« Eisenmasseln nach Japan. Bei aufkommenden Wind entstehen polternde Geräusche in den Laderäumen. Das Schiff krängt bis 40 Grad nach beiden Seiten, bleibt dann auf 60 Grad Schräglage liegen. Die Eisenmasseln sind verrutscht. Wasser dringt durch die Fenster der Decksaufbauten ein. Der Kapitän läßt noch MAYDAY (SOS) funken. Um 1.35 Uhr sinkt das Schiff schnell. 14 Tote sind zu beklagen. Die Seekammer stellte au-ßergewöhnliche Resonanzschwingungen mit Krängungen bis 45 Grad durch hohen

Seegang fest. Also höhere Gewalt. Der Kapitän hatte die Ladungsvorschriften durchaus beachtet. Ihm wurde kein Verschulden angelastet.

Nicht selten gerieten zivile DDR-Schiffe auch regelrecht in die »Schußlinie«. Im Roten Meer wurde am 2. August 1984 um 16.00 Uhr die »Georg Schumann« während ihrer Fahrt von einer gewaltigen Unterwasserdetonation erschüttert, die an Bord alles verwüstete. Das Schiff konnte lenz gehalten und in Jugoslawien repariert werden. Minenwarnungen hatte der Kapitän nicht erhalten, doch erlitten zu gleicher Zeit im gleichen Gewässer weitere 19 Schiffe ein ähnliches Schicksal. Ein moslemisches Extremistenkommando soll die Verantwortung für die Minen übernommen haben. Beweise fehlen bis heute. Kapitän und Besatzung hatten vorbildlich die Notsituation gemeistert.

Zielgerichtet geschossen wurde vor Mauretanien am 24. April 1983 auf das Fischereifahrzeug ROS 412 »Grete Walter«; es wurde von einem Patrouillenboot mit Maschinengewehren durchsiebt. Zum Glück gab es keine Menschenverluste. Wie sich herausstellte, besaß das DDR-Schiff keine gültige Fischfang-Lizenz für dieses Gewässer. Daß die mauretanische Patrouille sogleich das Feuer eröffnete,

war dennoch unangemessen. Und noch ein Beispiel von vielen: Am 14. April 1968 rammte das U-Boot »U-26« der Bundesmarine die MS »Völkerfreundschaft« vor dem Fehrmarn Belt, weil es faktisch blind fuhr. Wegen Spritzwassers hatte der Wachoffizier den Turm des aufgetaucht fahrenden U-Bootes verlassen; er wollte das Boot aus der Zentrale steuern, sogar ohne Radar zu schalten. So übersah er das vielfach größere Passagierschiff. Der U-Boot-Kommandant mußte später 2000 Mark an die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger zahlen.

Friedrich Elchlepp und Manfred Kretzschmar, einst Seekommissar bzw. Marine-Navigator und Mitarbeiter im Seefahrtsamt der DDR, sind profunde Kenner der Materie. Man liest ihr Buch mit Gewinn. Kritisch sei einzig angemerkt, daß die Genauigkeit bei der Darlegung der juristischen Folgen zuweilen die Lesbarkeit erschwert. Lobenswert der umfangreiche statistische Teil, der den Wert des Buches als Dokument und Lehrmaterial erhöht.

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