- Politik
- Hartmut Lange: »Italienische Novellen«
Das Unvorhersehbare
Man kann nicht aufhören zu lesen, man staunt warum. Und wenn man schließlich das Buch zuklappt, fragt man sich, was da geschehen ist. Sind es bloß kunstvoll ausgedachte Geschichten, zum Zwecke der Spannung verfertigt? Unerhörte, aber höchst private Begebenheiten, denen der Leser um so lieber folgt, wenn er nicht involviert ist, wenn er sich ruhig zurücklehnen darf im Gedanken, daß das eigene Leben in sicheren Bahnen verläuft, während die literarischen Gestalten jähe Wendungen durchleiden?
Gewiß, da ist Kalkül im Spiel. Mit Bedacht wurde vom Autor eine Brücke gebaut. Aber die Abgründe, in die man von dort aus schaut, die waren schon immer da. Die sind immer da, nur daß man es oft nicht sieht, nicht sehen will. Der Mensch 'hat Vorstellungen, Pläne, aber
es kommt alles ganz anders. Wenn man das gewußt hätte, heißt es dann. Aber Tatsache ist: Man hat es nicht wissen können, und das ist völlig in Ordnung gewesen. Das Bedürfnis, alles ins Licht zu rükken, alles vorauszusehen - dieses Zukunftsbild gehört ebenso zum Leben wie leider auch das Dunkle, das allgemein verdrängt wird.. Davon handeln die drei Novellen.
Das Attribut »italienisch« assoziiert etwas Leichtes, Heiteres. Heiterkeit nicht, aber Leichtigkeit ist im Stil von Hartmut Lange wohl. Ein Erstaunen, was geschieht und was geschehen wird, hält den Leser fest. Vielleicht kommt da ein Raunen aus der Antike herüber, vielleicht ist dies mit »italienisch« gemeint. Egal, man hätte für die Sammlung auch einen anderen Titel wählen können, zumal die dritte Novelle überhaupt nichts mit Italien zu tun hat. Einen Titel vielleicht im Sinne des Dreiklangs dieser Texte: Leben, Tod und Liebe. Aber das hätte eine intellektuelle Geschlossenheit ergeben, die dem
Autor wohl gerade widerstrebte. Weil das künstlich wäre, weil das Dasein in kein Schema paßt.
Da ist ein Mann in den besten Jahren, im Auftrag seiner Berliner Bank in Wien, wo ihm irgendwie, irgendwie die Erinnerung an das Fräulein Lamprecht kommt, in die er kurze Zeit verliebt gewesen ist. Vielleicht hat ihn auch das taubenblaue Plakat mit Namen vermißter Personen aus der Bahn geworfen. Aus einer Laune heraus setzt er seinen Namen hinzu und agiert in der Folge völlig anders, als er es sich vorgenommen hat. Er verpaßt das Taxi, das ihn zurück zum Flughafen bringen soll, spaziert statt dessen im Regen durch das nächtliche Wien, reist am nächsten Tag nach Venedig und dann in einen kleineren Ort namens Cividale, wo er mit einem rätselhaften Fremden durch Tempel und Museen streift. Schließlich folgt er diesem Araber sogar nach Kairo. Was zieht ihn? Etwas, das sich ihm nicht enthüllt. Aber am Schluß, als er heimkehrt, denkt er- »Die
Welt ist ohne Geheimnisse.« Und da weiß man, daß der Mann am Ende ist, auch wenn er noch weiterlebt. Er hat großes Glück gehabt, hat eine Chance bekommen - Fräulein Lamprecht zu finden oder wenigstens die Fähigkeit wiederzuerlangen, aus Lust und Laune unterwegs zu sein und er hat es verpaßt, ist wieder ins Banale zurückgefallen.
Die zweite Geschichte, »Die Verteidigung des Nichts«, handelt vom Tod, dem Schicksal und der Freiheit. Ein Junge, der gerade erst sein Abitur gemacht hat, ist am Ende nicht mehr am Leben. Daß es irgendwann so kommen würde, weil Antonio schwer krank ist, hat man beim Lesen schon lange geahnt. Umso befremdlicher das Verhalten seines Vaters. »Es ist nichts«, sagt er immer. Will er es nicht wahrhaben? Aber es ist ganz anders, der erschreckende Schluß kann es auch nicht ganz erklären. Da verlangt der Autor vom Leser, etwas Ungeheuerliches zu akzeptieren - eine Arbeit, mit der man nicht fertig wird.
Auch die ältliche Concierge Frau Lehmann aus der Novelle »Der neue Mieter« wird wohl sterben - an einer simplen Erkältung und Liebeskummer. Doch vielleicht hat sie eine solche Chance ergriffen, wie sie im ersten Text angedeutet war. Einerseits: Was soll der Frau Lehmann die späte Liebe, die doch nicht mehr als
ein Irrlicht ist? Andererseits: So hat sie noch nie gelächelt wie in ihrem Wahn.
Hartmut Lange ist, was viele vielleicht nicht wissen, Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin gewesen, ein marxistischer Analytiker, der sich auf den Spuren von Brechts epischem Theater bewegte. So konsequent in der Erkenntnis des Widerspruchs zwischen sozialistischer Utopie und Wirklichkeit, daß er mit der Macht in der DDR zusammenstieß. Seit 1965 lebt Hartmut Lange in West-Berlin. Bis in die 70er Jahre hinein hat er sich dort in seinen Texten mit der Ausbeutergesellschaft auseinandergesetzt. Daß er sich dann mehr und mehr existentiellen Fragen zuwandte - dem Tod, der Angst, der Einsamkeit, dem Verhältnis von Mensch und Natur, Natur und Kunst mag Freunde enttäuscht haben. Der Glaube an Vernunft und historische Gesetzmäßigkeit ist ja im Marxismus verankert. Vielleicht bedarf es konkreter Erfahrung, um zu verstehen, daß es ebenso das Unvorhersehbare gibt, das Unerklärliche, das heillose Entsetzen und noch etwas, das kaum zum Allgemeingut der Menschen werden kann, weil es nicht vermittelbar ist, das aber dem einzelnen zu leben hilft.
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