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  • Politik
  • Walter Kempowski: »Heile Welt«

Der Lehrer als Taugenichts

  • Fritz Rudolf Fries
  • Lesedauer: 5 Min.

Kempowski-Leser, und ich bin deren einer, haben Grund zur Freude: Nachdem uns der nicht mehr ganz junge (1929 in Rostock geborene) und heute zwischen Bremen und Hamburg in Nartum lebende Erzähler seine Dokumentation eines 19stündigen Fernsehmarathons (»Bloomsday '97«) augenzwinkernd als den Höhepunkt seines literarischen Schaffens angepriesen hatte, kommt nun doch wieder ein Roman. Ginge es um Punkte, müßte diesem neuen, die alten Themen noch einmal betrachtenden Werk die Palme der Kritiker überreicht werden. Die Großkritiker aber schweigen oder lassen ihre Volontäre sich in Ignoranz üben, während die aufgewärmte Avantgarde des Tages das Feuilleton in Lustschreie ausbrechen läßt.

Oder ist es, daß hier einer gestraft wird, weil er im Jubel großdeutscher Gesten zurückgeht ins Jahr 1961 und die Gemütslagen eines Dorfes im Norddeutschen so zu Papier bringt, daß man dieses Kaff Klein-Wense mit der BRD verwechseln könnte? Die heiligen Güter der Nation, sie werden heute vom Feuilleton verwaltet.

Zugegeben, Kempowskis »Heile Welt« ist eine altmodische Sache. Der Erzähler, dieser aus dem Osten kommende Junglehrer Mathias Jänicke, ist ein Schalksnarr Er trägt nur eine andere Kappe als seine Mitmenschen; aber besser als sie mag er nicht sein. Das wird manchen Leser verstimmen, der den Autor gern auf seiner Seite hätte, sagen wir- als kämpferischen Parteigänger

Alle Romane Walter Kempowskis sind »Deutsche Chroniken« kleinbürgerlicher Enge und Zähigkeit, die Zeiten zu überdauern und sich dabei in die Tasche zu lügen: »Uns geht's ja noch Gold«, Ein Lebenskünstler auch dieser Mathias Jänikke, der dem Autor zum Verwechseln ähnlich sieht. Die Ähnlichkeit täuscht. Sie ist ein Zerrbild der Zeit, denn immer ist der Autor ein gutes Stück weiter als der tumbe Tor seiner frühen Jahre. Kempowskis Talent zeigt sich auch in diesem Roman, das Komplizierte mit leichter Hand umzusetzen. Der vertrackte norddeutsche

Humor lockert diesen Boden auf. Die dem Leben abgelauschten Dialoge, die eingestreuten Sprichwörter und zitierten Volkslieder gehören zum poetisch-dokumentarischen Stenogramm dieser Sprache. Der neue Roman, wenn man eine Chronologie herstellen will, schließt an den 1984 erschienenen Roman »Herzlich willkommen« an.

Wie sein Autor hat Mathias Jänicke acht Jahre Bautzen hinter sich, als er in den Westen kommt und in Göttingen Pädagogik studiert. 1961 wird er Dorfschullehrer in Klein-Wense, ABC-Schützen und ältere Schüler in einer Klasse. Vom Schulraum kann der Herr Lehrer in die Küche und von da in seine Wohnung mit schönem Blick auf Gärtchen und Dorf. Wir sind in der Heide, die Hermann Löns besungen hat, nahe an Worpswede, und ein Katzensprung ist es nach Hamburg und Bremen. »Das war der Ort«, heißt es einmal, »in den sich Mathias, vom Schicksal unbemerkt, verdrücken wollte«. Sein Vorgänger, »in zwei Kriegen marschiert«, war dem Alkohol zu sehr ergeben gewesen. Der Schulrat, der den besten Eindruck von diesem schmalen Jüngling hat, der seine Vergangenheit lieber im Dunkeln läßt, möchte ihm zu einer besseren Schule raten. Mathias, als echter Nachfahre des Eichendorffschen Taugenichts und in seinem Herzen ein heiliger Franziskus, der mit den Tieren spricht, will es nehmen, wie es kommt. Er richtet sich im Niemandsland ein, macht ein wohnliches Nest aus der Lehrerwohnung und frönt seiner einzigen Leidenschaft: Er sammelt. Alte Billardkugeln und Kaffeemühlen, Urväterhausrat, den die Bauern, im Einzugsgebiet der Wirtschaftswundersupermärkte, auf den Mist schmeißen.

Der Lehrer ist unbeweibt, was die Leute im Dorf kopfschüttelnd bereden. Bauer Fr.eedes, schwarzloejage,, Tochter Carla kümmert sich um ihn und steigt, in Abwesenheit ihres Zukünftigen, ins Bett des Herrn Lehrers. Carla ist wie Mathias ein wenig aus der Art geschlagen. Einmal kommt die Wahrheit ans Licht, Carla ist ein Fehltritt ihrer Mutter mit einem französischen Kriegsgefangenen. Der Lehrer beobachtet, wie die Gebeine der im Dorf gestorbenen französischen Soldaten ex-

humiert werden. Es ist, als möchte der Ort die Zeugen seiner braunen Vergangenheit aus der Welt schaffen. Die Rekonstruktion der Dorfgeschichte wird zur stillen Obsession des Sammlers Mathias Jänicke. Aber die Decke des Schweigens ist gut geknüpft. Auch der Herr Pastor verstummt, wenn es um die Frage geht, wer den einst im Dorf ansässigen prominenten Kunstmaler von Kallroy an die Gestapo verpfiffen hat. Und wer hat seine Fresken übermalt? Lehrer Mathias wirft ein Auge auf die Tochter des Berühmten, der im KZ starb und dessen Bilder hoch im Kurs stehen, auch wenn man darüber hinwegsehen muß, daß er, wie einst Vogeler in Worpswede, unterernährte Arbeiterkinder zu sich aufs Land holte. Tochter Ellinor steht unter der Fuchtel ihrer Tante, die ihr ein Recht auf die Bilder verweigert. Als der Lehrer auf Bitten Ellinors einige Grafiken verstecken soll, werden sie ihm gestohlen. Er ist überhaupt etwas schusselig, dieser Lehrer

Aber die Kinder lieben ihn, und von Tag zu Tag steht er höher auch in der Gunst der Mütter. Das Geheimnis seiner Pädagogik ist Duldung und Einfühlung. Eines Tages aber taucht der Schulrat auf... Doch wozu alle Facetten des so leichthin erzählten und komischen Buches ans Licht bringen. Kempowskis Episoden aus dem Zettelkasten verwandeln sich unter den Augen des Lesers, wie jene japanischen Papierblumen im Wasser, zu wunderbaren Bildergeschichten. Dabei scheint über dem Dorf immerzu ein Gewitter zu hängen. Eine Bedrohung, die ihr Gesicht nicht zeigt. Sie versteckt sich hinter den Sportfesten, Umzügen, Weiterbildungskursen mit Linsensuppen und Bauchspeck und heimlich tolerierter Prügelstrafe.

»Ja, was man mit den Kindern alles machen kann! Eines darf nie fehlen: die Liebe«, so heißt es in Kempowskis Tagebuch »Sirius« (1990). Der Lehrer Mathias Jänicke macht die Erfahrung, die vor ihm der Lehrer Walter Kempowski gemacht hat: »Der Unterricht kann so schlecht sein, wie er will, er schadet den Kindern kaum, wenn -ja, wenn! Wenn um dieses Lern-, Bims-, Ochsenzentrum ein freier pädagogischer Raum des Wohlwollens entsteht«. Und so endet die Flucht des Lehrers aus Klein-Wense mit der Rückkehr an die Dorfschule. Die Kinder bedanken sich mit einem Zettel auf dem Lehrertisch: .,>>Du bist lieb«. Natürlich schreiben sie es auf Platt: »Du bis leip«.

Der Roman ' beschreibt- keine heile Welt. Er ist die Anstiftung zu einer heilen Welt. Und das wiederum ist das einfache, das schwer zu machen ist.

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