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  • Politik
  • »Der Blaue Reiter und seine Künstler« im Brücke-Museum Berlin

Von der Geburt der abstrakten Kunst

  • Lesedauer: 5 Min.

Wassily Kandinskys Umschlagentwurf für den Almanach »Der blaue Reiter«

Foto: Katalog

Von Manuela Lintl

Drei Jahre lang hatte sich das Berliner Brücke-Museum darum bemüht, eine Ausstellung zum Blauen Reiter zu zeigen, der zweiten bedeutenden Künstlervereinigung des deutschen Expressionismus neben der 1905 in Dresden gegründeten Brücke. Ein schwieriges Unterfangen, denn die noch erhaltenen Werke, die nicht der Vernichtungswut der Nazis zum Opfer fielen oder in den Wirren des Zweiten Weltkriegs verlorengingen, sind heute in zahlreichen Museen auf der ganzen Welt verstreut oder befinden sich nur schwer zugänglich in Privatbesitz. Weltbekannte Schlüsselwerke des Blauen Reiters von Kandinsky, Marc, Klee oder Jawlensky werden aus konservatorischen Gründen kaum noch auf Reisen geschickt. Trotz dieser Schwierigkeiten ist es dem Brücke-Museum in Zusammenarbeit mit der Kunsthalle Tübingen gelungen, eine beachtliche Schau von über 140 Werken zusammenzutragen.

Die Rückschau im Brücke-Museum konzentriert sich auf den relativ kurzen Zeitraum zwischen 1908 und 1914, in dem die Impulse der Erneuerung durch die Maler des Blauen Reiters von München ausgingen. Gabriele Munter und die russischen Künstler Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky sowie Marianne Werefkin hatten auf zahlreichen Auslandsreisen die neuesten europäischen Kunstströmungen vom Impressionismus bis zum Kubismus kennengelernt und studiert. Sie setzten sich theoretisch und praktisch mit den gewonnenen Eindrükken auseinander, trafen sich regelmäßig zu gemeinsamen kunsttheoretischen Gesprächen.

1908 und 1909 verbrachte man Studienaufenthalte in Murnau, einem idyllischem Bergdorf im Voralpenland. Hier entstanden die ersten expressionistischen Landschaftsbilder direkt in der Natur In bewußter Abkehr von den stren-

gen Regeln der Kunstakademie entwikkelten die jungen Künstler eine gefühlsbetonte, farbintensive und vereinfachte Malweise. Um sich dem verstaubten akademischen Reglement endgültig zu entziehen, gründeten die Malerfreunde im Januar 1909 die »Neue Künstlervereinigung München« und organisierten unabhängige Ausstellungen, an denen auch Vertreter der europäischen Avantgarde wie Braque und Picasso teilnahmen. Franz Marc, einer der Hauptköpfe der Gruppe, stieß 1910 zu ihr Als 1911 Kandinskys abstraktes Gemälde »Komposition V« zur geplanten Ausstellung der Vereinigung von der Jury abgelehnt wurde, trat der Murnauer Künstlerkreis aus der Vereinigung aus.

Der Name der Gruppe »Blauer Reiter«, den Kandinsky und Marc erfanden, geht auf eine seit längerem geplante revolutionäre Programmschrift zur Kunst des 20. Jahrhunderts zurück. Sie erschien 1912 im Piper-Verlag. Doch zunächst fand im Dezember 1911 in der Modernen Galerie Thannhauser in München die legendäre erste Ausstellung der »Redaktion Der Blaue Reiter« statt. Insgesamt 14 Künstler nahmen daran teil, darunter heute weniger bekannte wie Eugen von Kahler, Elisabeth Epstein, die Brüder David und Wladimir Burljuk und der gebürtige Amerikaner Albert Bloch.

Die Ausstellung im Brücke-Museum unternimmt jedoch nicht den Versuch, die historische Schau zu rekonstruieren. Vielmehr soll anhand von Arbeiten der prominentesten Vertreter des Blauen Reiters die bahnbrechende Entwicklung zur Abstraktion verdeutlicht werden. Die gezeigten Werke derMünter und der Werefkin, von Jawlensky und Heinrich Campendonk belegen die zunehmende Formvereinfachung und den Einsatz starker Farbkontraste der »Wilden Deutschlands«, wie Marc sie nannte. Die jungen Künstler folgten in der Malerei nicht mehr den akademischen Regeln der Perspektive und Komposition, sondern allein ihrem

ursprünglichen Ausdrucksbedürfnis. Eine Reihe lichtdurchfluteter Tunis-Aquarelle von Paul Klee und August Macke bildet eine eigene Werkgruppe innerhalb der Ausstellung. Außerdem wird der relativ unbekannte Tiermaler Jean-Bloe Niestle mit den Gemälden »Wasserpieper« (1909) und »Wildernde Katze« (1910) vorgestellt. Niestle konzentrierte sich ganz darauf, die heimische Tierwelt in natürlicher Umgebung einfühlsam und konsequent realistisch wiederzugeben. Kandinsky und Marc, die »geistigen Köpfe« und Initiatoren der Gruppe, sind in der Ausstellung am umfangreichsten vertreten.

Es wird deutlich, daß es keinen einheitlichen Weg zur Abstraktion gab. Und nicht alle gingen den Weg bis zur vollständigen Abstraktion. Marc erreichte vorrübergehend eine Lösung vom Gegenstand, etwa in dem Bild »Zerbrochene Formen« (1914). In seinen mythischen Tierdarstellungen führt die Farbe ein Eigenleben, die Materie bleibt aber, wenn auch verfremdet, erhalten. Nur Kandinsky gelangte in seinen »Improvisationen« oder dem gezeigten »Bild mit rotem Fleck« (1914) zum abstrakten Expressionismus. Ziel seines Strebens nach einer vom Gegenstand befreiten Malerei sei eine »absolute« und »reine« Malerei, um den »inneren Klang« seiner Gedanken und Ideen sichtbar zu machen, schrieb er in seiner 1912 erschienenen theoretischen Schrift »Über das Geistige in der Kunst«. Anders ausgedrückt: Die Form wurde zum Ausdruck eines geistigen Inhalts.

Die von Kandinsky aber auch von Marc im Almanach des Blauen Reiters formulierten radikalen Neuerungen waren eng an einen »übersteigerten Idealisinus« und religiösen Mystizismus geknüpft. Im formalen Wandel der Kunst sahen beide Künstler den Auftakt zu einer 'spirituellen »Reinigung' und Verbesserung der Gesellschaft«. Nicht nur Gegner der Moderne hatten Vorbehalte gegen diese mis-

sionarische Absicht. So äußerte Delaunay Kritik an der »mystischen Schwärmerei« der befreundeten deutschen Künstler Die Mischung aus apokalyptischen Ängsten und utopischen Heilserwartungen führte seiner Meinung nach zu einer Erstarrung, die »das Leben paralysiert und behindert«.

Daß die Werke der Künstler des Blauen Reiters einst Stürme der Entrüstung auslösten, kann man sich heute kaum noch vorstellen. Am Ende des 20. Jahrhunderts sind sie zu Ikonen der klassischen Moderne geworden.

Brücke-Museum Berlin, Bussardsteig 9, Berlin-Dahlem: Der Blaue Reiter und seine Künstler Bis 3 Januar 1999 Mi-Mo 11-19 Uhr Am 24. und 31 12. geschlossen, am 1 1 1999 13-17 Uhr geöffnet. Im Hirmer Verlag erschien das Katalogbuch zur Ausstellung »Der Blaue Reiter und seine Künstler«, Hg. Magdalena M. Moeller, 340 Seiten, 280 Abb., gebunden, 98 DM, im Museum 42 DM. Zweite Station der Ausstellung: 16. Januar bis 28. März 1999 in der Kunsthalle Tübingen.

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