- Politik
- Unterlassene Hilfeleistung: Alle gaffen, keiner hilft
Tüte überm Kopf
Aus den Medien wissen wir: Zeugen von Unfällen und Verbrechen, bei denen Menschen in Not, ja gar in Lebensgefahr geraten, schauen immer mehr weg. Andere stehen untätig herum, als hätten sie Tüten über ihren Köpfen. Nichts sehen, nichts hören, nicht helfen. Seit langem ist man in der Wissenschaft der sogenannten unterlassenen Hilfeleistung, nach § 323 c Strafgesetzbuch auch ein Tatbestand, auf der Spur - mit überraschenden Ergebnissen.
Kein Unglücksfall hat die Forschung zum Hilfeverhalten so nachhaltig beeinflußt wie der Mord an Catherine (»Kitty«) Genovese in Queens/New York am 13. März 1964. Die 28jährige Frau befand sich um etwa drei Uhr nachts auf dem Heimweg zu ihrem Apartment, als sie auf offener Straße überfallen wurde. Zunächst konnte sie sich befreien, was aber ihr langes und öffentliches Sterben nicht verhinderte. Der Täter brauchte länger als 30 Minuten, um sein um Hilfe schreiendes Opfer nach drei brutalen Angriffen schließlich zu erstechen. Niemand der 38 Nachbarn, die durch die Schreie des Opfers aufmerksam wurden und das Geschehen auf der Straße von den Fenstern ihrer Wohnungen aus beobachten konnten, kam der jungen Frau zu Hilfe. Und keiner rief die Polizei.
Die »New York Times« fragte damals alle Zeugen, warum sie weggesehen haben, und erhielt nur ausweichende Antworten. Daraus folgerte deren Chefredakteur A. M. Rosenthal, daß die Amerikaner auf dem besten Weg seien, ein Volk von »abgebrühten Egoisten« zu werden. In der »kalten Gesellschaft« (»cold Society«) schere sich eben niemand mehr um die Belange anderer.
Diese provozierende Behauptung stachelte Psychologen und Soziologen auf der ganzen Welt an. Sie forschten zum Problem der unterlassenen Hilfeleistung, der Wegsehmentalität, zu den Gaffern, die bei Unglücksfällen, Katastrophen und Straftaten nicht nur nicht helfen, sondern die Hilfs- und Rettungskräfte behindern oder - wie bei den ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen - die Täter gar zu weiteren Gewalttaten anstacheln.
Denn fast täglich gibt es in Deutschland Meldungen über untätige Zuschauer So ertranken zwei Kinder im Dezember 1989 auf dem halb zugefrorenen und nur 1,55 Meter tiefen Olympia-See in München, und 20 Erwachsene sahen vom sicheren Ufer phlegmatisch zu. Im Mai 1997 wurde ein Chemnitzer Schwerbehinderter im Bus von zwei Räubern krankenhausreif geschlagen, aber weder die anderen Fahrgäste noch der Busfahrer schritten ein.
Auch in der DDR, die nun wirklich keine »kalte Gesellschaft« war, gab es interessanterweise eine Tendenz zum Wegsehen und Nichthelfen. Ein Beispiel? Zwei »verunglückte« Schüler, die durch realistische Wunddars^ellung »echt« wirkten, lagen 1985 in einem Versuch auf einer Ausfahrtstraße von Stendal.direkt am Rand der Fahrbahn. Erschreckend die Reaktion der Kraftfahrer: In 30 Minuten wollten neun Erste Hilfe leisten, aber 60 (87 Prozent) fuhren an der Unglücksstelle vorbei. Um die Hilfsbereitschaft von Autofahrern zu testen, führten der ADAC und der Südwestfunk 1992 ein ähnliches Experiment durch. Im Zeitraum von drei Stunden wollten 14 Personen Hilfe leisten, 55 (80 Prozent) fuhren vorbei.
Prof. Dr Hans-Dieter Schwind, Kriminologe aus Bochum, hat nun mit seinem Autorenteam ein Fazit aller bisherigen Forschungen gezogen und ein Büchlein mit dem etwas reißerischen Titel »Alle gaffen ... keiner hilft« herausgebracht. Es bietet einerseits eine einzigartige Fallsammlung, andererseits nüchterne und gut lesbare Analysen zum Hilfeverhalten. Die Autoren belegen, daß es sehr viele Faktoren sind, die zum Nicht-Helfen-Wollen und Nicht-Helfen-Können führen. Die These von der »kalten Gesellschaft«, die sich von allen altruistischen Wertevorstellungen gelöst hat, erklärt allein das Wegseh-Phänomen jedenfalls nicht. Vielmehr sind es vielfältige situative, individuelle und gruppendynamische Faktoren, die das Verhalten der Menschen in Richtung Helfen oder Nicht-Helfen steuern.
Schon nach dem Genovese-Fall in New York stellten die beiden Psychologieprofessoren Latane und Darley die zunächst überraschende Hypothese auf, daß im Fall des Mordes in Queens niemand half, weil eben 38 Zeugen zuschauten, denn wenn mehrere potentielle Helfer und Helden da seien, verringere sich das Gefühl der Verantwortlichkeit bei jedem einzelnen. Jeder denkt, die anderen können ja etwas tun, und am Ende hilft keiner. Viele hätten auch Angst, lesen wir in dem Buch von Schwind &;,Co.,.aus der Masse herauszutreten und sich vor den anderen Zeugen zu blamieren, viele machen auch einfach eine Kosten-Nutzen-Rechnung auf und sagen sich, daß sich ihr Einsatz nicht lohnen wird.
Die Bereitschaft zur Hilfeleistung sei nach Ansicht der Autoren in den vergangenen zehn Jahren rapide gesunken, wobei die grundsätzliche Bereitschaft zu helfen keineswegs erloschen ist.
»Helfen steckt an« ist einer der praktischen Tips der Wissenschaftler. Natürlich, Patentrezepte kann es nicht geben, denn es kommt immer auf die äußeren Umstände des Falles und die Gefährlichkeit des Ereignisses, ergo auf den Einzelfall an. Aber konkfliktreduzierende und möglicherweise lebensrettende Ratschläge gibt es in dem Buch schon eine ganze Menge (siehe Kasten).
Anfang Februar 1998 startete die Hamburger Polizei eine verdienstvolle Kampagne unter dem Motto »Wer nichts tut, macht mit«, die sich mit den Problemen der Entsolidarisierung, des Wegschauens und der fehlenden Zivilcourage beschäftigt. Das Ziel der gemeinsamen
Aktion von Polizei und Stadt ist es, Hemmungen abzubauen und Kommunikation zu dem Problem zu fördern. Eine ganze Palette von Hilfsmitteln ist seitdem eingesetzt worden: Informationskarten mit Tips zur Hilfeleistung, Plakate, Zeitungsannoncen, U-Bahn-Aufkleber, TV- und Kinospots, eine Hot-Line beim Landeskriminalamt und eine Giveaway-(Geschenk-)»Tüte« mit dem ironischen und provozierenden Text: »Sollte hier jemand bedroht werden, ziehen Sie sich einfach diese Tüte über Ihren Kopf - oder betätigeti'Sie die Notbremse','« 11 “' “?““““““ Reinhard Kautz, Berliner Kripo-Mann, im Nebenjob eher Missionar, hat in den letzten Jahren mit Erfolg viele tausend Teilnehmer durch das polizeiliche Anti-Gewalt-Training geschleust. Und er weiß noch mehr als Schwind und Autoren: Man sollte in Gefahr Frauen ansprechen! »Die Männer«, hat er einmal gesagt, »können Sie vergessen. Die stehen da wie angeklebt mit offenem Fischmaul.« Bis dieses Phänomen wissenschaftlich untersucht ist, der abschließende Rat: Ziehen Sie im Fall der Fälle die Notbremse und die Tüte vom Kopf, nicht nur vom eigenen, denn irgendwie tragen wir, ob man's in der heutigen Zeit glauben will oder nicht, alle eine Verantwortung für die Mitmenschen. Und denken Sie stets daran: Sie könnten das nächste Opfer sein.
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