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  • Politik
  • Günter Grass las auf der Leipziger Buchmesse - und verweigerte sich der Resignation

Das Abenteuer Aufklärung

  • Hans-Dieter Schutt
  • Lesedauer: 6 Min.

Wie setzt man ein deutliches Zeichen, und wie bewahrt man es als Künstler vor einfältiger, instrumentalisierender Besetzung? Dieses Dilemma ist das tägliche Brot des Schriftstellers. Ein Dilemma zumal dann, wenn jemand einem kräftigen Talent des Einmischungsdrangs ausgesetzt ist und immer wieder ganz selbstverständlich jenes für sein Geschäft reservierte Separee verläßt, in dem er den Schutz des Kunstvorbehalts genießen könnte.

Günter Grass. In der Welt berühmt, aber im eigenen Lande - wie es der Literaturjournalist Harro Zimmermann formuliert - oft genug von einem »Geschmacksurteilsbetrieb« attackiert, der »einäugig und verzerrt« urteilt. Grass am vergangenen Freitag in Leipzigs Stadtbibliothek. Überfülle schon eine Stunde vorher, im großen Saal und den Nebensälen. So viele Menschen, die aufs Wort hören - aber eben aufs Wort, das unruhig und Lust aufs Ausscheren macht.

Grass liest aus dem Buch »Mein Jahrhundert«, das im Sommer beim Steidl Verlag Göttingen erscheint: 100 kurze Erzählungen, jedes Jahr hat »seine« Geschichte, und es gibt 100 verschiedene Ich-Erzähler. Keine Geschichtsmacher, sondern Frauen und Männer aller sozialer Schichten und jedweden Alters. Traurige, heiter-freche, laute und leise Geschichten, die Historie von unten be-

leuchten. Eine »Topographie Deutschlands« (Grass), die dichterische Phantasie mit genauer Faktizität verbindet. Zu jeder Geschichte wird es ein Aquarell des Autors geben.

Der Verlag weist darauf hin, daß diese Lesung keine vorweggenommene Buchpremiere sei, sondern ein Art Blick in »die erweiterte Werkstatt«. Es gehöre zur Arbeitsweise von Grass, sich langsam und öffentlich vom Text zu lösen; dieser Weg vom Manuskript über die Druckfahnen hin zum fertigen Buch sei gewissermaßen ein »demokratischer Vorgang«.

Der Autor liest mit wechselnden Tonfällen, gleichsam in den Gestus seiner Figuren hineinsteigend; er steht am Pult, zwischendurch am Rotwein nippend. 14 Geschichten liest er, 14 von 100 Jahren. Die äußeren Ereignisse - etwa Georg Heyms Tod in der Havel, die Nacht von Hitlers Machtergreifung, die Enttrümmerung Berlins, Brandts Kniefall in Warschau, der Auschwitz-Prozeß, die erste demokratische Wahl im März 1990 in Leipzig - sind aufgehoben ins Ureigene eines literarischen Monologs. Nie ist die subjektive Lebenserzählung nur Erfüllungsgehilfe einer geschichtsinterpretatorischen Mission, aber durch konkreten Raum und genaue Zeit wird jedes dieser kleinen Leben überraschend beweglich und groß - und ganz aus sich heraus symbolfähig.

Ein zweiter Grass-Auftritt am anderen Tag: »Vom Abenteuer der Aufklärung« heißt das Buch ebenfalls aus dem Steidl Verlag, das Werkstattgespräche vereint,

die Harro Zimmermann mit Grass führte. Ein dichter, wirklich tief ins Werk und engagiert in die Welt führender Interviewband. Jedoch erwartungsgemäß: Die erste Frage der Journalisten gilt nicht dem Buch, sondern dem Balkan. Grass spricht von einem »Schock«, verweigert sich aber einem Vergleich der NATO-Raketenangriffe etwa mit dem Golf-Krieg. In Jugoslawien sei kein Krieg begonnen, sondern in eine Tragödie eingegriffen worden, die seit fast zehn Jahren bestehe. Tito, »ein großer Staatsmann«, habe ein Vielvölkerkonstrukt geschaffen, das lange Bestand hatte. Einen Zerfall habe die Bundesrepublik mit der voreiligen Anerkennung von Slowenien und Kroatien verantwortungslos beschleunigt. »Serbische Untaten gibt es seit Jahren, niemand griff ein. Nun rudert die Politik hilflos, und keiner weiß, was passiert, angesichts einer im Partisanenkrieg geschulten Armee.«

Aber, so Grass, nun wolle man doch bitte zum Buch kommen.

»Diskursinfarkt« nennt Harro Zimmermann im fundierten Essay seines Interviewbuches den gegenwärtigen Zustand der öffentlichen intellektuellen Debatte über Zustand und Zukunft von Welt und Mensch. Auf die Frage, wie aber nun eine solche Diskussion im Sinne des »Abenteuers der Aufklärung« wieder in Gang zu bringen sei, antwortet Grass: »Fangen wir doch bei den Medien an.« Die hätten ein rasendes Tempo bei der »Verzeitgeistung« angeschlagen. Grass hat sich die Presseberichte über die Feier

zum 70. Geburtstag von Christa Wolf angesehen und »vernichtende Urteilen feststellen müssen. Er zitiert, redlich zornig, die »Süddeutsche Zeitung«: »Das Leben ist kurz, das Hüftgelenk ist neu.« Das sei infam, so dürfe kein anständiger Mensch mit dieser mutigen, aufklärerischen Frau umgehen. Die zerstörerische Unflätigkeit, mit der einst »Neues Deutschland« in der DDR das Werk Christa Wolfs bedacht habe, wiederhole sich nun auf westlicher Seite in einigen sich so betont seriös meinenden Zeitungen. Ein gründlich recherchierender Journalismus funktioniere nicht mehr, wo Quotengefährdung, Drohungen von Anzeigenkunden oder anderer »Druck einer entfesselten Wirtschaftskraft« jeden Chefredakteur in just jene Feigheiten und Verdrängungen treibe, die der Westen einst überheblich und in scheinbarer moralischer Unanfechtbarkeit als Signum der DDR-Diktatur gei-ßelte.

Und wer mehr übers Thema wissen wolle, so Grass, könne ja den Niedergang des »Spiegel« studieren.

Entscheidend für einen erfolgreichen Widerstand gegen mediale Auszehrung ist für Grass auch das, was er in seinem immer wiederkehrenden Plädoyer für eine Gesamtschule formuliert. Carlo Schmitt habe einmal traurig gefragt, wer überhaupt noch bereit sei, »das Unnütze zu lernen«. Genau in dieser Bereitschaft für das Unnütze läge ein Chance - gegen eine Allgemeinbildung, die auf gefährliche Effizienz zielt, stets nur das aufzunehmen, was »man später gebrauchen kann«.

Befreiende Sinnlichkeit attestiert Harro Zimmermann jenem Grundimpuls der Aufklärung, der bei Grass prononciert mit den Namen Montaigne, Lichtenberg und Lessing verknüpft wird. Leider habe der technische Fortschritt die »Möglichkeiten des Vernunft-Prinzips längst ausge-

höhlt«. Wir alle seien »mißratene Kinder der Aufklärung«, sagt Grass; von der Atomtechnik bis zur Genmanipulation zöge sich die Spur einer fatalen Vergöttlichung von Vernunft und ihrem Wahn, alles Machbare auch tatsächlich werden zu lassen. Ganz zu schweigen von den damit einhergehenden ideologischen Mißbildungen. Immanuel Kant nannte den Menschen ein krummes Holz, das beim Versuch, es geradezubiegen, zerbreche. Pseudosozialistische Versuche, den »neuen Menschen« zu erschaffen, seien zur Geschichte des millionenfachen Zerbrechens von Lebensläufen geworden. Dies alles diskreditierte den »Vorsprung Zukunft«. Jene Traumwiese Utopie, die mit Idee auszugestalten sei: ein von Befürchtungen und wahrscheinlich apokalyptischen Gewißheiten besetztes Feld.

Grass, der Resignierende?

Nein, das nicht. Wieder fallen die Namen Montaigne, Lichtenberg, Lessing. Und Grass besteht darauf, einen Humor nicht zu verlieren, der, wie schon Thomas Mann meinte, in Deutschland stets unter dem Ironie-Verdacht stehe. Noch einen weiteren Namen nennt Grass: Albert Camus. Der davon sprach, man müsse sich den steinwälzenden Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Ideologen, sagt Grass, gehen davon aus, daß dieser Stein irgendwann oben liegen bleibt. Endziel. Auslöschung von Widerstand. Aufhebung der Schwerkraft. Aber wer nicht von solch falscher Hoffnung auf Erlösung und Sieg getragen wird (der Stein bleibt nicht oben liegen!), ist auch nicht der Gefahr ausgeliefert, in Resignation zu versinken. Sisyphos fleht in der Auslegung Camus' Laßt mir meinen ewig wegrollenden Stein.

Also, schließt der Dichter und zieht an seiner Pfeife, laßt ihn auch mir, laßt also . auch mich.

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