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Dem heiligen Nopal droht Gefahr

Mexiko Am Rande der weltgrößten Stadt wird auf traditionelle Art der Kaktus angebaut Von John Ross, Milpa Alta

  • Lesedauer: 4 Min.

Mexikos Hauptstadt, die größte Metropole der Welt, ist voller Gegensätze. Nirgendwo ist die Luft so schlecht wie hier. Das riesige Tal kann das Häusermeer kaum noch fassen. Kaum zu glauben, daß hier noch Landwirtschaft betrieben wird.

Zum Beispiel im Distrikt Milpa Alta im Südwesten der Stadt. Hier bauen indigene Bauern eine aztekische Kulturpflanze an, den Nopal. Dieser Kaktus - Opuntia Figus Indica - ist ein wichtiges Symbol in Mexiko.

Vor Tausenden von Jahren hatte der aztekische Kriegsgott Huitzilopochtli seinem Nomadenstamm weisgesagt, daß er sich dereinst an jenem Ort niederlassen werde, wo ein Adler, auf einem Nopal sitzend, eine Schlange verspeist. Die Azteken fanden diesen Ort auf einer Insel in dem großen See, der einst das Tal von Mexiko füllte. Sie gründeten dort die Stadt Tenochtitlän, heute Mexiko-Stadt, und

begannen von hier aus, den Rest des Landes zu erobern.

Der Adler auf dem Nopal ist heute das Staatswappen des Landes. »Wir leben vom Anbau des Nopal, er ist uns geradezu heilig«, versichert Javier Montes de Oca von der Gewerkschaft der Nopalproduzenten. Den europäischen Eroberern dagegen war der Nopal ein Dorn im Auge. Priester Bernardino Sahagun, Chronist der Eroberung, beschreibt den Nopal als »einen montrösen Baum«. Er berichtet von ernstlichen Verletzungen spanischer Soldaten bei dem Versuch, die mit Stacheln besetzte Frucht des Baumes zu essen. Doch die Invasoren machten letztlich ihren Frieden mit dem stacheligen Feind und brachten ihn nach Andalusien und Nordafrika, wo er heute Teil der Landschaft ist.

Seit Jahrhunderten kultivieren Nahuatl-Indigenas den Kaktus in ihren Höfen und Gärten. Drei Viertel der 80 000 Einwohner von Milpa Alta arbeiten in der Nopal-Produktion. Auf insgesamt 6000 Hektar werden 16 verschiedene Arten angebaut,pro Jahr werden 250 000 Tonnen geerntet.

Wanderarbeiter, meist indigene Bauern vom Volk der Mazahuas oder der Mixteken, schneiden frühmorgens die langen Nopalreihen. Um diese Zeit sind die Pflanzen noch taufeucht. Die Arbeit ist gefährlich, denn die stacheligen Nopale stehen eng beieinander. Auf einem Hektar können bis zu 40 000 Pflanzen stehen. Die abgeschnittenen Blätter werden zu enormen, kreisrunden Bündeln gepackt und in symmetrischen Kreisen angeordnet. Diese Technik datiert noch aus aztekischer Zeit, erklärt Javier Montes. In faßförmigen Bündeln auf die Märkte der Hauptstadt transportiert, werden die Blätter im Sechserpack verkauft.

Die Nopalblätter erreichen auch europäische Ziele, vor allem Deutschland und die Niederlande. Auch in Japan steigt die Nachfrage. Eine Gruppe örtlicher Landwirte schickt schon seit Jahren tonnenweise Nopal nach Los Angeles, denn die grünen Blätter sind den mexikanischen Wanderarbeitern in die USA gefolgt. Frischen Nopal kann man mittlerweile auf den Obst- und Gemüseständen in Chicago, San Francisco und New York erstehen. Von ihren Stacheln befreit, verleihen

die dicken Blätter einer Suppe und Salaten ein spezielles Aroma. Traditionelle Speisen wie »schwimmende Nopales« und »Romeritos« sind aus Aztekentagen herrührende Leckereien.

Den Azteken war der Nopal heilig wegen seines guten Geschmacks, aber auch wegen seiner Eigenschaften als Heilpflanze. Noch immer gilt der Kaktus als Allheilmittel. Viele Hauptstädter bekämpfen die atemberaubende Luftverschmutzung mit einem aus Nopal und Pampelmusen gepreßten Saft. Wegen seiner hohen Eisen-, Kalzium- und Vitaminanteile wird der Nopal vor allem bei Verdauungsbeschwerden verschrieben. Nach Studien des Nationalen Ernährungsinstituts INN fördert der Nopal den Aufbau der schützenden Magenschleimhaut. Naturheilkundler benutzen Nopaltinktur für die Behandlung von Geisteskrankheiten und Hämorrhoiden. Doch am häufigsten wird der Nopal medizinisch gegen Diabetes eingesetzt. »Wir haben hier viele Zuckerkranke in Milpa Alta, doch keiner braucht Insulin. Alle essen Nopal, um ihre Krankheit in den Griff zu bekommen«, sagt Javier Montes.

Trotz seines guten Rufes und der Werbung durch die mexikanische Handelskammer ist der Nopalanbau in Milpa Alta bedroht. Eine Gefahr ist die ständige Ausdehnung der riesigen Stadt. Obwohl das Ackerland Gemeindeeigentum ist, haben einige Bauern ihre Parzellen verkauft, und neue Häuserreihen umzingeln die Nopalwälder. Illegale Müllkippen verbreiten ungeheuren Gestank und die dunkle Smogglocke dehnt sich immer weiter Richtung Süden aus.

Obwohl der Kaktus nur nachts atmet, wenn die Luftverschmutzung am geringsten ist, bleibt fraglich, ob er in Zukunft noch so gesund sein wird wie heute. Ein Nopal hat eine Lebenserwartung von sieben bis zehn Jahren. Traditionell werden die kranken Pflanzen ausgerissen und durch junge ersetzt, doch in den letzten Jahren ist der Einsatz von Insektiziden üblich geworden und hat das ökologische Gleichgewicht ins Wanken gebracht.

Der ärgste Feind ist der Nopal selbst. Inzwischen drückt eine Überproduktion des einträglichen Kaktus' die Preise. Für immer neue Plantagen werden Pinienwälder und Obstbäume gefällt. Wegen der Monokultur nimmt auch die Bodenqualität ab. »Wir werden unsere Nopales verlieren, wenn es uns nicht gelingt, den Markt für unser Produkt zu organisieren«, weiß Javier Montes. »Mit dem Nopal aber verlieren wir unsere Zukunft und unsere Vergangenheit.« (npl)

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