Wenn Körner und Seele vor Schreck erstarren
| Psychotrauma Nach neuesten Untersuchungen leiden knapp ein Viertel aller Unfallopfer unter psychischen Langzeitfolgen. Eine spezielle Therapie kann ihnen helfen. Von Peter Liebers
Der Umgang mit posttraumatischen Problemen war Gegenstand des 1. Kongresses der deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie, der kürzlich in Jena stattfand.
Daß jemand »vor Schreck erstarrt« ist nicht nur eine landläufige Redewendung, sondern eine genetisch vorprogrammierte Reaktion, die sich auch bei Tieren findet. Sie hat eine Schutzfunktion im Moment höchster Gefahr oder beim Anblick grauenvoller Ereignisse, wie er sich Rettungskräften, Feuerwehrleuten oder Polizisten bietet. Der Schutzmechanismus kann allerdings auch seinerseits zum Problem werden, wenn er sich nicht in angemessener Zeit wieder löst. Mediziner sprechen dann von posttraumatischen Symptomen, die verheerende Folgen haben können.
Allgemeine Übererregung, Schlafstörungen, Überaggressivität oder bei Kindern Leistungsabfall in der Schule gehören zu den Symptomen posttraumatischer Belastungsstörungen, die zu völliger Isolation und Arbeitsunfähigkeit führen können. Die Behandlung dieser Krankheiten erweist sich vielfach als komplizierte Angelegenheit, obwohl es gute Therapiemöglichkeiten gibt. Wie kompliziert das
Problem ist, machte Dr. Regina Steil von der Jenaer Universität am Beispiel vergewaltigter Frauen deutlich. Etwa die Hälfte der Betroffenen verschweige dieses traumatische Erlebnis selbst nächsten Angehörigen aus Scham und Angst vor unverständigen oder verletzenden Reaktionen, ergab ihre Studie - sie untersucht das Schicksal von 32 Frauen, die gegen Ende des Zweiten Weltkrieges vergewaltigt worden waren. 60 Prozent von ihnen leiden heute noch unter Langzeitfolgen wie Angstzuständen oder Nervosität. Allerdings ergab die Studie auch, daß Vergewaltigungen im Krieg oftmals »leichter« verarbeitet werden, da sie als unvermeidliches soziales Schicksal angesehen werden und nagende Selbstzweifel über eine mögliche Mitschuld durch das eigene Verhalten besser unterdrückt werden können als bei ähnlichen Verbrechen im zivilen Alltag. Am besten seien jene Frauen und Mädchen mit der Vergewaltigung im Krieg fertig geworden, die von den Eltern darauf vorbereitet wurden, daß ihnen dergleichen geschehen kann.
Vorbereitet zu sein, kann überhaupt wesentlich dazu beitragen, Schockerlebnisse besser zu verarbeiten. Das bestätigten unter anderem' Untersuchungen an türkischen Folteropfern. Oppositionelle, die bewußt dieses Risiko eingingen, verkrafteten die Folgen besser, als Unbeteiligte, die »versehentlich« in die Folterkeller gerieten, wurde in Jena berichtet. Derartige Schutzmechanismen haben aller-
dings auch Grenzen. Die wurden im Falle eines Lok-Führers deutlich, der den Dienst quittierte, nachdem er dem 22. Selbstmörder in die Augen gesehen hatte, der sich vor seinen Zug warf. Rein statistisch erlebt jeder Lok-Führer eine solche Situation »nur« dreimal in seiner Laufbahn.
Bemerkenswert sind Ergebnisse einer Studie, die belegen, daß bei Verkehrsunfällen die Verursacher ähnliche psychotraumatische Symptome zeigen, wie die Unfallopfer. Alarmierend sind dabei Untersuchungen an der Universität Freiburg an nahezu 1000 Unfallopfern. Danach zeigte knapp ein Viertel von ihnen nach einem Vierteljahr noch posttraumatische Belastungstörungen, nach einem Jahr waren es immer noch über 16 Prozent.
Das habe die dortigen Unfallärzte sensibilisiert und dazu geführt, daß jetzt zielgerichtete Therapien eingeleitet werden, berichtete der Vorsitzende der Gesell-, schaft für Psychotraumatologie, Ulrich Frommberger. Diese Verfahrensweise ist allerdings eher die Ausnahme. Im Gegensatz zu anderen psychologischen Erkrankungen sei eine frühe Behandlung möglich, da die Ursachen bekannt sind, sagte Frommberger. Meist werde das Problem aber übersehen oder verdrängt. Damit wird der Entwicklung chronischer Folgen Vorschub geleistet. Das treffe besonders auf Kinder zu, stellte Dr. Steil fest. Eine von ihr erarbeitete Studie ergab, daß jedes siebente an einem Verkehrsunfall betei-
ligte Kind eine psychische Traumatisierung erleidet und noch lange nach dem Unfall Belastungsstörungen zeigt. Die reichen von übertriebener Ängstlichkeit und Furcht vor dem Alleinsein bis zu verzögerter kindlicher Entwicklung. Bei den Unfällen würden auch die Seelen verletzt, sagte Dr. Steil und empfiehlt betroffenen Eltern deshalb, ihre Kinder anzuhalten, das Erlebnis altersgerecht zu verarbeiten. Das gilt allerdings auch für Erwachsene. Denen raten die Wissenschaftler dringend von Selbstmedikation mit Alkohol oder Tabletten ab, weil das meist zur Abhängigkeit führt und das Problem nur potenziert. Besser seien Gespräche in der Familie, mit Bekannten oder eben der Besuch beim Psychologen.
Die Erforschung, erst recht aber die Behandlung entsprechender Krankheiten
hat allerdings auch eine heikle Seite. Polizisten, Feuerwehrleute und Angehörige von Rettungsdiensten zeigten nur wenig Bereitschaft, an entsprechenden Studien mitzuarbeiten, hieß es in Jena, obwohl ein Drittel der in diesen Berufen Beschäftigten psychotraumatische Symptome zeige.
Den Hintergrund für ihr Verhalten bildet die Frage: »Was passiert, wenn jemand herausbekommt, daß ich erhebliche Probleme habe?« Da steuert offenbar die Sorge um das berufliche Fortkommen das Verhalten. Schwierigkeiten bekommt oft auch der, der psychotraumatische Schäden gegenüber Versicherungen geltend machen will. In Jena wurde berichtet, es gebe Leute, die seien zehn Jahre lang von Gutachter zu Gutachter gelaufen, weil die Kassen oder Versicherungen das Krankheitsbild nicht anerkennen wollten.
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