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  • Politik
  • Meike Scharfenberg ist arbeitslos, aber sie merkt es gar nicht

PUPPENSTUBE VON WEL T

  • Lesedauer: 11 Min.

ND-Foto: Burkhard Lange

Meike Scharfenberg und ihre Geschöpfe

Unsere Begegnung beginnt mit zwei Lügen. Meike Scharfenberg hatte Geburtstag, ihren 56. Ich bringe ihr eine Rose mit. »Danke«, sagt sie, »wie schön sie ist.« Die Rose ist nicht schön. Ich habe sie im ersten Fürstenwalder Blumengeschäft, das an der Straße lag, gekauft. Schöne Rosen gab es dort nicht. Die Sträuße, die in ihrem Wohnzimmer stehen, sind aus schlichten, filigranen, leuchtenden Gartenblumen gesteckt und duftig in Kristall arrangiert. Meine Rose ist nur eine Geste. Ihre Worte sind eine Geste. Lügen sind keine richtigen Lügen, wenn sie aus Freundlichkeit bestehen. Sie beherrscht die freundlichen Gesten aus dem ff. Aber das weiß ich noch nicht.

Ich hatte mir Meike Scharfenberg anders vorgestellt. Vor einem halben Jahr etwa hatte sie einen Brief geschrieben. Vermutlich war es ein spontaner Brief, einer von denen, die man schreibt, damit es einem besser geht. Sie erzählte darin, wie sie, eine Kunsterzieherin, seit zehn Jahren aufs Arbeitsamt geht und sich dort der Jovialität junger Beamter ausgesetzt sieht. Sie schrieb, sie habe nicht die Absicht, von dem Kakao, durch den man sie zieht, auch noch zu trinken und daß sie sich daher aufs Puppenmachen verlegt. Davon könne sie zwar nicht leben, trotzdem lebe sie so besser.

Eine Arbeitslose, die Puppen baut nicht, daß sie in meiner Vorstellung ein Gesicht gehabt hätte. Unterbewußt und unkontrolliert hatte ihr sarkastischer Brief einen Schemen modelliert, ein gängiges Schema rekonstruiert, das nicht viel besser als Jovialität ist: Mit Arbeitslosen hat man Mitlied. Auf Meike Scharfenberg war ich nicht gefaßt.

Schönheit mit 56 ist anders als Schönheit mit 21. An 21jährigen fasziniert uns, daß sie so klar, so ganz, so heil sind. Mit 56 ist man nicht mehr heil. Man ist gestürzt, zerissen, zersplittert, und es gibt einen Schmerz, der immer bleibt. Mit 56 ist Schönheit erkämpft, ein »Nein!«, ein »Nicht mit mir!«, ein »Trotzdem!«. Sie ist täglich behauptetes Gleichgewicht, überraschende Präsenz - wie Meike Scharfenberg an diesem Morgen in ihrem hellen Wohnzimmer sitzt, sieht man auch, wie die Gewichte verteilt sind: Da ist sie, da sind ihre Puppen, und da ist ihr Ehemann Günther. Der weicht nicht von ihrer Seite. Wieso auch? »Ohne ihn«, sagt sie, »wäre das alles gar nicht möglich. Wir leben beide von seiner Rente. Die ist nicht groß, doch für uns reicht sie.«

Das Zimmer ist nicht luxuriös. Oder doch: Es ist lebendig. Eines jener seltenen Zimmer, in denen sich über viele Jahre gelebtes Leben versammelt hat, weil man es aufhob und nichts wegschmiß. Hier ein alter geschnitzter Stuhl, dort ein kunstvoll besticktes Plaid, hier eine arabische Lampe, dort ein blauflirrendes Gemälde. Alles erzählt, es ist nicht die Rente, die die Bewohner des Zimmers verbindet.

Günther Scharfenberg ist ihr zweiter Mann. Die Ehe mit dem ersten hielt nicht mal bis zur Geburt des Kindes. Das liegt mehr als 30 Jahre zurück, doch auch diese Zeit gehört zu ihr und muß daher erwähnt werden. Sie hatte Gebrauchswerberin gelernt und danach Kunsterziehung studiert. Dieses Zwischenspiel ist wichtig: Als junge Lehramtsanwärterin hatte man sie nach Lieberose geschickt, »Lieberose war immer ein Nest, immer von irgendwas das Letzte, und die Schule war grauenhaft, alles war schlimm, bis auf die Schüler«. Als sie mit dem Schulrat darüber sprach, schlug der ihr grinsend auf den Hintern, mit ihrer Figur werde sie es schon richten. Niemand schlägt Meike Scharfenberg auf den Hintern! Ihr Abschied von der Volksbildung. Sie arbeitete in der Lehrlingsausbildung, später dann als Dekorateurin, begann, abends für andere Leute zu nähen, manchmal malte sie Nummernschilder für Ifa-Motorräder- »Pro Stück gab's drei fünfzig, von zehn Schildern konnten

wir ne Woche leben«. Dann erzählte ihr jemand von einem Bekannten, der auf der Suche nach einer Frau sei. Da sie praktisch veranlagt ist, sagte sie: »Na, zeig mal her.«

Das erste Mal trafen sie sich in Berlin, im Cafe im »Haus des Lehrers«. Es ist Günther Scharfenberg, der an dieses Detail erinnert. Sie lacht: »Er hat dolle Dinge erzählt, zum Beispiel, daß er Diplomat sei. Ich habe ihn ausgelacht: Du lügst, zeig mir mal deinen Ausweis.« Heirat 1971. Ein Jahr später war sie die Frau des DDR-Botschafters in Jemen.

Fünf Jahre Aden. Fünf Jahre lang Hausherrin einer Residenz. Schnell lernt sie Englisch und Arabisch, und schnell erlernt sie die freundlichen Gesten. Sie ist ein Naturtalent. Weil sie von Natur aus freundlich ist, mögen sie die Angestellten. Trotzdem halten sie immer Abstand. »Sie waren klüger als wir«, glaubt sie heute, »sie wußten, daß Herrschaften kommen und gehen. Erst die Engländer, dann wir. Und sie sahen ja, wie uns die Hitze zusetzte.«

In fünf Jahren nur einmal Regen. »Da wuchsen Moose und Gräser, und dann war es gleich eine Naturkatastrophe und Elend.« Fünf Jahre lang verwurmtes Brot, fünf Jahre lang jede Menge Bananen, aber keinen Apfel essen. Fünf Jahre lang Disziplin, Disziplin. Auch die erlernt die Parteilose schnell. Wenn sie das Kristall für den Abend poliert, denkt sie, ich, Meike Scharfenberg, diene der Deutschen Demokratischen Republik. Naja, so in der Art, so ähnlich. Trotzdem weiß sie, die Genossen leisten an ihr »NAW-Arbeit«. Kommt sie aus der Stadt zurück, muß sie sich erst mal eine Weile in den »Buddenbrooks« versenken, eintauchen in eine andere Welt.

Dennoch gefällt ihr diese Welt, in der sie jetzt mit Günther lebt. Die sogenannte Dritte Welt, für DDR-Diplomatenkreise nicht unbedingt lukrativ. Zu ihren Aufgaben gehört es, Kontakte zum Frauenkollektiv der DDR-Bürger zu halten, Kontakte zu den Ehefrauen des Diplomatischen Corps zu pflegen, und, im Namen des DFD, Kontakte zur jemenitischen Frauen-

bewegung herzustellen. Die imponiert ihr. Manchmal sieht sie, wie die Landarbeiterinnen in die Plantagen ausrücken, von Soldatinnen begleitet. Sie selbst ist voll damit beschäftigt, zu Empfängen zu gehen und welche zu geben. Sie kann hinter jeder Gabel stehen. Ihre Kleider schneidert sie selbst und denkt nicht daran, sie nur einmal zu zeigen. Während sich alle mit Gold eindecken, ersteht sie lieber Folkloreschmuck, eine Kette aus Münzen zum Beispiel. Sie sieht hübsch damit aus, wie ein Foto beweist, das Günther Scharfenberg stolz zeigt.

Auf Aden folgt Bagdad. Sie beherrscht jetzt nicht allein die freundlichen Gesten, sie hat auch gelernt, sich abzugrenzen. Diesmal hält sie sich das Kollektiv der DDR-Frauen vom Leibe: »Die redeten so oder so über einen.«

1982 steht der Irak schon im Krieg gegen den Iran. Willi Stoph kommt zu Besuch, »der benahm sich anständig«. Günter Kleiber ist mehrfach zu Gast, »der blieb ewig, wegen der Tagegelder. Abends erzählte er immer Witze, er hatte einen Stichwortgeber: Jetzt mal den vom Förster, Günter. Und zu fortgeschrittener Stunde sollten wir mit ihm Volkslieder singen. Weil keiner die Texte kannte, sollte mein Mann die Texte verteilen. Als der nicht wollte, wurde er böse, und immer die Hand auf der Sekretärin.« Darüber ist sie heute noch wütend: »Über 40 Raketenangriffe haben wir in Bagdad erlebt, durch die Luft flogen Menschenteile. Und der kommt und will mit uns Volkslieder singen! Hinterher hat er sich beschwert.«

Während der Luftangriffe steigt sie, eine Karte in der Hand, auf das Dach der Residenz, um die Einschläge zu registrieren, dann in der Botschaft anzurufen und ihren Mann zu informieren: Es hätte ja sein können, daß eine Rakete dort einschlägt, wo sich DDR-Bürger aufhielten; Kollateralschäden gab es schon immer. Abends offizielles Programm. Meist im Nationaltheater, das umgeben ist von Objekten der militärischen Begierde. Das Diplomatische Corps versammelt sich trotzdem allabendlich vollzählig. Keiner fehlt und jeder denkt, heute könnte das letzte Mal

sein. Sie erzählt, wie »brüderlich die Atmosphäre im CD war. Da ging es nicht mehr um Ost oder West, sondern nur noch um Charakter. Wollte man nicht als Feigling dastehen, konnte man überhaupt nicht fehlen.«

Zurück in Berlin, darf der »Gorbatschowist« Scharfenberg nur noch Zeitung lesen. Sie arbeitet als Erzieherin im Internat des Außenministeriums. Meike Scharfenberg faßt es nicht: Auch die Kinder haben schon Standesdünkel. Die, deren Eltern in Paris, New York, Wien oder London sind, fühlen sich als was besseres. Manchmal macht sie sich den Jux, und spricht eine Mutter mit »Gnä' Frau« an. Die nimmt das einfach hin, widerspricht nicht. Dann läßt sie die »Gnä' Frau« mit ihren manikürten Nägeln eine Reißzwecke aus der Wand pulen: »Gnä' Frau, die ist von Ihrem Sohn, würden Sie die bitte mitnehmen.«

Meike und Günther Scharfenberg haben lange geglaubt: Wenn Honecker weg ist, wird es mit der DDR besser. Sie haben sich geirrt. 1990 wird das Internat abgewikkelt. Meike Scharfenberg muß aufs Arbeitsamt, na und, viele müssen dorthin. Sie kann arbeiten, sie ist praktisch. Sie nimmt jede ABM: In einer Boutique verkauft sie Kleider, sie unterrichtet Aussiedler, gibt bei den Samariteranstalten stundenweise Kunsterziehung. Immer läuft es darauf hinaus, es gibt so viele, gebraucht wird keiner. Als man sie auf dem Arbeitsamt fragt, ob sie wirklich Meike heißt, »weil, die heißen ja sonst immer Heike«, liegen ihre Nerven blank. Sie ist kein Viertelmillionstel Mensch! Niemand ist das, niemand sollte sein Leben als Viertelmillionstel verbringen müssen.

Ich weiß nicht, ob sie nur Glück hatte, daß sie während eines Besuchs bei Freunden eine Puppe sah. Eine Puppe, die die Tochter ihrer Freunde gebastelt hatte. Wieder zu Hause, begann sie sofort, so etwas auch einmal zu probieren. Aus Brotteig formte sie einen Kopf, den sie dann in der Röhre buk, modelte einen Körper zurecht, den sie auch irgendwie kleidete. Heute sagt sie: »Fürchterlich.«

Doch die Puppen fesselten sie. Seltsam,

denn als Kind hatte sie sich vor ihren Puppen geekelt: vor den weichen, weißen Gelenken, vor den toten, glotzenden Augen. Sie hörte von Hans-Jürgen Popig, einem Puppenmacher in Zeesen, und bat ihn, sie zu unterrichten. Sie lernte schnell, denn sie ist praktisch: welche Knetmasse man für die Köpfe verwendet, wie die Gelenke beweglich werden, wie man einen fragilen Körper, 16mal kleiner als der eines Menschen, in weiche Gewänder hüllt, wie man Hände formt und Perücken knüpft. Arbeitete sie an einer Puppe, konnte alles hineinfließen: wer sie ist, was sie kann, was sie erlebte. Wenn es Glück ist, daß man jemand ist, etwas kann und etwas erlebte, dann hatte Meike Scharfenberg Glück.

»Es gibt Puppenmacher«, erzählt sie, »deren Puppen sind alle verwandt. Meine sind ganz unterschiedlich.« Es stimmt nicht ganz, all ihre Puppen ähneln sich: Sie haben Gesichter. Die freilich sind so verschieden wie die Millieus, denen sie entlehnt sind. Entsteht eine Puppe in ihr, »puppt« Meike Scharfenberg sich ein: wie damals, als sie die Buddenbrooks las, versinkt sie tagelang in der Welt der Zilles, der Bajazzos, der Bauchtänzerinnen, der Ulanen und der Augustinermönche. Manchmal hilft es, die Welt zu wechseln, um man selbst bleiben zu können.

Sie hat ihre Puppen neben der Tür in einer Vitrine aufgereiht. Eine Puppenstube von Welt: große Puppen, kleine Puppen, Stehpuppen und Marionetten. Sie' gucken frech, schnippisch, naiv, wissend, durchtrieben, fies aus der Wäsche - ihre Kreationen, ihre Geschöpfe. Deshalb überrascht es mich, daß sie sie nicht um sich haben möchte. »Doch«, meint sie, »bloß der Platz ist falsch. Weil sich jeder, der uns besucht, genötigt fühlt, über die Puppen zu sprechen.« Das möchte Meike Scharfenberg nicht. Sie weiß, daß sich eine Gastgeberin nie, niemals in den Vordergrund drängt.

Sie baut ihre Puppen, weil es ihr Spaß macht. Weil schon ihre Großmutter wußte, »daß man nicht liest, solange es hell ist«. Weil sie »im Getriebe bleiben will, damit ich denen, die mir so viel wert sind, auch noch etwas wert bleibe. Denn wer Arbeit hat, muß sich halbtot arbeiten, der kann nichts anfangen mit einem, der den ganzen Tag nur rumsitzt«.

Scharfenbergs Tage sind immer zu kurz. Sie müssen sie sich einteilen. Günther schreibt an Memoiren, die wahrscheinlich keiner druckt, doch für die sich nun ein Archiv interessiert. Sie kreiert Puppen, und zwischendurch, damit sie nicht »schrullig« wird, schreibt sie an der Festschrift zum Fünfzigsten des Segelklubs SG Scharmützelsee.

Mittags und abends Fernsehen, politische Sendungen sind Pflicht. Und natürlich Kulturmagazine, um auf dem Laufenden zu bleiben. Seit sie auf die Arbeitslosenhilfe verzichtet, wird ihnen Theater zu teuer. Außerdem müßten sie nach Berlin. »Dorthin«, sagt sie, »zieht uns nichts.«

Es ist nicht mehr ihr Berlin. Nicht das Berlin, in dem sie ihn von der Arbeit abholte und sie zusammen essen gingen. Das Ministerium ist abgerissen. Ins Ausland fahren sie 1 auch nicht mehr. »Man begreift nichts von einem Land, wenn man nur als Urlauber hinfährt.« pem, der heute noch einen Rest von Arabien sehen möchte, empfehlen sie den Südjemen. »Aber Sie müssen sich beeilen: Früher haben die Leute den Abfall einfach hinters Haus gekippt. In einer Stunde war er verdorrt, und dann trug der Wind ihn weg. Colabüchsen verdorren nicht.«

Sie selbst fahren lieber an die Ostsee. Wenn sie eine Puppe verkauft, leisten sie sich ein paar Tage. Neulich konnte sie gleich drei große Puppen nach Wittenberg liefern: Katharina von Bora, Melanchthon und Luther. Gezahlt wurde erst nach Androhung eines gerichtlichen Bescheids. Nach solchen Tiefschlägen stopfen sie drei Tage lang Nüsse in sich hinein, die sie dann wieder abspecken. Vielleicht kommt ja mal eine Zeit, da man sich um ihre Puppen reißt.

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