Stau-Chaos an Europas Himmel
Flugverkehr Passagiere sauer, Airline-Mitarbeiter und Fluglotsen genervt Von Rene Heilig
»Über den Wolken muss die Freiheit grenzenlos sein«, singt der smarte Reinhard May. Ein Irrtum. Der Luftfahrt sind enge Grenzen gesetzt. Jeder dritte Linien- oder Charterflug, der irgendwo in Deutschland beginnt, ist derzeit verspätet oder wird ganz gestrichen.
Für Verspätungen gibt es hundert Gründe, genau so viel hat die internationale Vereinigung der Fluggesellschaften IATA auch aufgelistet. Doch nur wenige davon sind simpler Natur-Crew krank, Reinigung nicht abgeschlossen, eine klemmende Tür oder ein verspäteter Zubringerbus - all das passiert. Selten. Dennoch.hebt z. B. in München jeder dritte Flug 40 Minuten und mehr verspätet ab.Durchschnittlich schleppt jeder dritte Flug über Europa eine Viertelstunden-Verspätung mit sich.
Die Urlaubszeit verstärkt das Dilemma. An Spitzentagen rechnet der Flughafen in Düsseldorf knapp 65 000 Passagiere ab, 150 000 Menschen fliegen pro Tag in Frankfurt (Main) ab oder kommen dort an. Im vergangenen Jahr freute sich der Rhein-Main-Airport, 40 Millionen Fluggäste bewältigt zu haben. Zusätzlich läuft viel Frachtverkehr 416 329 Starts und Landungen führten Mensch und Technik jedoch ans Ende ihrer Leistungsfähigkeit.
In Frankfurt steigen auch die meisten »Condor«-Passagiere ein. Täglich 22 Flüge mit je 220 Erholungsgierigen sind normal, wenn auf Mallorca oder in Griechenland Bettenwechsel angesagt ist. Insgesamt schaffen 80 Charterfluggesellschaften deutsche Urlauber dorthin, wo die schönste Sonne der Saison scheint.
Bei der Lufthansa-Tochter »Condor«, die sich seit einiger Zeit mit der »Urlauberfabrik« von Neckermann zusammengetan hat, ist man sauer Auch wenn man versteht, dass die Linienflieger Priorität genießen und große Jumbo-Jets gleichfalls Vorrang haben, ist man es leid, stets die alten Ausreden zu hören, der Luftraum über Europa sei zu voll. Mit viel Aufwand hat »Condor« die Flotte »renoviert« und eine Reihe umweltfreundlicher Flugzeuge wie die Boeing 757-300 angeschafft, die das erfüllt, was auf Deutschlands Strassen noch Wunschdenken ist: Sie verbrauchen nur 3 Liter Kerosin auf 100 Kilometer - allerdings pro Passagier gerechnet. Nachdem man - freiwillig, so wird betont - die Vorstellungen der Politik erfüllt hat, soll die endlich mal etwas dafür tun, dass - wie Lufthansa-Chef Jürgen Weber meint - Europa endlich auch am Himmel zusammenwächst.
Denn an den Flughäfen liegt es nicht, wenn die Jets verspätet abheben. Die meisten Verspätungen - fast jede dritte sind mitgebrachte, denn die Taktzeiten der Maschinen sind eng bemessen. Nur so fliegen sie für ihre Eigentümer Profite ein. Also bemessen die Fluggesellschaften jene Zeiten, die ein Flugzeug braucht, um für den Rück- oder Weiterflug »umgedreht« zu werden, sehr knapp. Lufthansa beispielsweise glaubt, eine Stunde muss
genügen. Lufthansa weiß aber auch: Sie genügt nicht. Nur versucht man, auf diese Weise Standgelder zu sparen. Was wiederum den Flughäfen entgegenkommt, die so hoffen, mehr Maschinen an ihre Gates zu bekommen.
Fachleute wissen um den verbreiteten Selbstbetrug und argumentieren dennoch damit, dass längere Standzeiten die Flugpreise in die Höhe treiben würden. Der Konkurrenzdruck ist gewaltig. Zahlreiche große Airlines schlössen in den vergangenen fünf Jahren Allianzen, um Marktanteile zu erhaschen und Kosten zu minimieren. Gerade haben die niederländische KLM und Allitalia angekündigt, ihre seit November 1998 bestehende Kooperation bis zur möglichen Fusion auszudehnen, um mit 377 Flugzielen in 87 Ländern bald schon zur Nummer 1 in Europa aufzusteigen. Da will die von Lufthansa mitbetriebene »Star Alliance«, die 1998 über 400 Millionen Passagiere beförderte, mithalten. Gerade hat man in Sydney neue Service-Ideen besprochen, um der Konkurrenz das Wasser abzugraben.
Der Flugverkehr hat sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Tendenz steigend, meint auch die Pilotenvereinigung »Cockpit«, selbst wenn der Sprecher der deutschen Pilotengewerkschaft, Bernd Bockstahler, daran zweifelt, ob »es wirklich notwendig ist, in Stuttgart einen Flieger zu besteigen, um in Frankfurt zu landen«.
Verzicht oder Umstieg auf die Bahn ist gewiss vernünftig, nur reduziert man so die Anzahl der Flüge keineswegs. Andere Gesellschaften reißen sich um die frei werdenden Slots.
Auch was die Verspätungen betrifft, sieht die »Cockpit«-Besatzung nur sehr begrenzte Einflussmöglichkeiten. »Wir sind doch ebenso betroffen, wie die Menschen, die hinter uns sitzen.« Wenn die Startgenehmigung ausbleibt, können die Piloten auch nur vermuten, warum sie an der Ausübung ihres Jobs gehindert werden. »Per Funk bekommt man lediglich die Auskunft. Warten Sie, es ist zu viel Verkehr über Europa.« Dann ist Kreativität bei der Weitergabe dieser »Information« gefragt. Die Piloten bemühen sich, denn wer will sich schon selbst zum simplen Luftkutscher degradieren? »Irgendwann müssen die Stewardessen noch Volkstanz machen«, witzelt Bockstahler, um dann ernst hinzu zu fügen: Man leide wie die Passagiere. Nur- »Bei uns kippen die ganzen Umläufe, die Flugdienste und die gesetzlich definierten Ruhezeiten verschieben sich so, dass sie kaum noch zu ordnen sind.« Alle Tricks, Verspätungen in Grenzen
zu halten, sind den Operationsabteilungen der Airlines bekannt. Da gibt man dann - illegal - für einen Flug drei verschiedene Flugpläne aus. Das verwirrt das System zusätzlich. Ob und wie es auf die Idee von Lufthansa reagiert, die eine sofort einsatzbereite Maschine als »physische Reserve« auf dem Rhein-Main-Airport vorhält, um Lücken zu schließen, bleibt abzuwarten.
Endpunkt aller Tricks sind die Fluglotsen. Denn die sagen mit Fug und Recht: Ihr könnt mir 100 Maschinen schicken, ich nehme nur 30 pro Stunde auf den Schirm.- Sicherheit geht vor Noch hat keiner der rund 1800 Controller, die auf sieben internationalen deutschen Flugplätzen arbeiten, eine Katastrophe verursacht. Und das, obwohl Deutschland mit täglich 6000 Maschinen am Himmel zu den am meisten beflogensten Regionen Europas gehört.
Selbstsicherheit wäre fehl am Platze. Bei den 2,3 Millionen im vergangenen Jahr kontrollierten Flugbewegungen kam es zu 17 sogenannten Beinahe-Zusammenstößen. Einmal waren noch ganze 20 Meter Luft zwischen einer Boeing und einer einmotorigen Privatmaschine...
Obwohl Burkhard Sons, der Leiter Pünktlichkeitsmanagement von Lufthansa, der Luftraumkontrolle seit Beginn des Sommerflugplanes 45 Prozent aller Verspätungen »aufdrückt«, bleibt die Deutsche Flugsicherung (DFS) gelassen bei derartigen Vorwürfen. Das 5000-Mitarbeiter-Privatunternehmen ist Dienstleister im Auftrag des Bundesamtes für Flugsicherheit. Und es ist stolz, das mo-
dernste Flugsicherheitssystem Europas aufgebaut zu haben. Ein wesentlicher Vorteil besteht darin, dass zivile und militärische Flugleitung in einer Hand sind. Kein europäisches Nachbarland hat es geschafft, den traditionellen Kompetenzstreit zu eliminieren. »So gehen auch nur 15 bis 20 Prozent der Verspätungen auf unsere Kappe«, sagt DFS-Sprecher Raab. »Das System ist ziemlich ausgereizt, jede kleine Störung zieht größere nach sich.« Zur Zeit führe man gerade ein neues automatisiertes Leitsystem ein, das den Fluglotsen etwas von Routinearbeit entlasten kann.
»Mittelfristig soll jedoch die Luftraumstruktur völlig geändert werden«, erläutert Raab. Das Luftstreckennetz beruht nach wie vor auf der Funkfeuernavigation. An bestimmten »Straßenkreuzungen.«, .staut.es. sich..Doch kein modernes Flugzeug ist auf diese Navigatiohsvariante angewiesen. Also werden die Luftstrassen so weit es geht entzerrt. Im kommenden Jahr soll's losgehen.
Was die wirkliche Schwachstelle keineswegs beseitigt. Sie heißt Eurocontrol. Die Koordinierungsstelle des (westeuropäischen Flugverkehrs besteht seit 30 Jahren. 31 Länder sind einbezogen - und bringen insgesamt 49 verschiedene Systeme der Flugsicherung ein. Das kann nicht klappen.
Einheitliche Standards müssen her, Personal muss aufgestockt und die überkommene Hoheit der Militärs über bestimmte Lufträume eingegrenzt werden, erklären Flugsicherheit, Pilotenverband und Airlines gleichermaßen. Da die meisten nationalen Flugsicherheitszentren im EU-Gebiet staatlich organisiert sind, hängt man am auch am Finanztropf der jeweiligen Regierung. Und da tröpfelt es oft nur noch, seufzt DSF-Mann Raab, der für die kommenden Jahre »alles, nur keine Besserung« erwartet.
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