- Politik
- Der Philosoph Peter Sloterdijk hielt im Juli einen Vortrag - nun ist die Aufregung groß
Geisterbahn für den Medienrummel
Von Irmtraud Gutschke
Die Auseinandersetzung mit einem Text setzt voraus, dass man diesen gelesen hat. Im derzeitigen Streit um den Philosophen Peter Sloterdijk können die wenigsten wirklich mitreden, weil sein Vortrag, den er im Juli bei einem philosophischen Symposion auf Schloss Elmau hielt, zunächst nur den dort Anwesenden bekannt war. Später dann, als die Sache in die Medien kam - es dauerte eine Weile, bis zunächst die »Süddeutsche« und die »Frankfurter Rundschau«, dann »Zeit« und »Spiegel« reagierten - haben sich auch die Journalisten das Manuskript über den Suhrkamp Verlag besorgt, wo es im nächsten Frühjahr mit weiteren Beiträgen als Buch erscheinen soll. Natürlich wurde der Text in keiner Zeitung abgedruckt. Wahrscheinlich hätte der Autor die Genehmigung verwehrt. Aber die Frage stand auch kaum bei knapp 40 Schreibmaschinenseiten, deren Lektüre nicht eben leicht zu nennen ist. Dagegen waren fast alle Artikel, die über Sloterdijk geschrieben wurden, so klar und eingängig, wie es Medienchefs von ihren Machern erwarten.
»Züchter des Übermenschen« - so las man im »Spiegel«. Dazu für Eilige, die sich den ganzen Artikel nicht zumuten wollen, eine lange Unterzeile: »Der Philosoph Peter Sloterdijk propagiert >pränatale Selektion< und optionale Geburt<: Gentechnik als angewandte Gesellschaftskritik. Seine jüngste Rede über >Menschenzucht< trägt Züge faschistischer Rhetorik.« Eine Aufforderung an die Medien: Nun heult mal alle auf! Man konnte sicher sein, so sind nun mal die Spielregeln der Öffentlichkeit, dass »Spiegels« Signale prompt von den Nachrichtenagenturen aufgegriffen und
noch bis ins kleinste Gemeindeblättchen getragen werden würden. Und die Chefs kratzten sich am Kopf: Da müssen wir wohl reagieren! »Menschenzucht« - das ist heiß. Und »faschistische Rhetorik« gar - dass wir so was unterstützen, wollen wir uns als gute Demokraten doch nicht nachsagen lassen. Eine Story ist es allemal.
Von den Menschen in diesem Lande tragen viele beträchtliche Sorgen mit sich herum, sie haben den Kopf voll und niemanden, der sich wirklich um sie kümmert. Dass sich manche Zeitungen wie die »Berliner« einen Ombudsmann leisten, der Lesern hilft, wenn sie ungerecht behandelt werden, ist doch nur ein Alibi. Im Allgemeinen hilft dir keiner, wenn sie dich auf Arbeit mobben, wenn sie dich rausschmeißen, und du findest nichts mehr. Das solltest du auch nicht erwarten, wird dir gesagt, das sei eben die Freiheit, dass jeder für sein Leben die volle Verantwortung trage. Und damit du mal auf andere Gedanken kommst, bietet dir die Zeitung täglich neue Histörchen über amoklaufende Schüler, geschiedene Filmstars oder verseuchtes Rindfleisch an.
Die aufgeregten Artikel über Peter Sloterdijk gehören in diese Kategorie und belegen nur, was er am Freitagabend im 3-Sat-Magazin »Kulturzeit« sagte: dass wir es schon längst nicht mehr mit einer Informationsgesellschaft zu tun haben, sondern mit Erregungsjournalismus, der die Skandalisierung von Vorgängen betreibt. Was einst die Domäne der Boulevardpresse war, hat inzwischen, wie man an den Artikeln über Sloterdijk sieht, auch philosophisch gebildete Leute erfasst. Es geht sogar das Gerücht, Sloterdijk behauptet es, dass der Philosoph Jürgen Habermas seine Schüler gedrängt haben soll, sich gegen ihn zu empören. Wir können nicht nachprüfen, ob das stimmt, und wenn ja, welche tiefer liegenden Gründe
es dafür gibt. Aber eines ist klar- Eine seriöse argumentative Auseinandersetzung mit Sloterdijks Rede (die er übrigens bereits vor zwei Jahren in Basel hielt, wie er in 3-Sat bemerkte), hat bisher nirgendwo stattgefunden. Es stecken auch so viele schwierige Fragen darin - vordergründig und hintergründig -, dass dies im Rahmen eines im Umfang begrenzten Zeitungsartikels schwer zu machen ist.
Auf dem Medienrummel wurde lediglich mal wieder eine neue Geisterbahn aufgebaut. Zahlen Sie Eintritt und Sie dürfen sich gruseln. Beeilen Sie sich, die Attraktion ist nur noch wenige Tage zu sehen. »Das Zarathustra-Projekt« so titelte die »Zeit« passend zum Unterhaltungsgenre Social Fantasy. Und wie es in der Trivialliteratur üblich ist, begegnet man bekannten Motiven wieder - hier der Story von einem »Elitenverbund«, der durch »Selektion und Züchtung die genetische Revision der Gattungsgeschichte« einleitet und Nietzsches Traum vom Übermenschen wahr machen könnte. Das klingt nun in der Tat höchst bedrohlich, nur -Sloterdijk hat das überhaupt nicht gesagt.
Peter Sloterdijk hat einen besorgten, elegischen, teilweise resignierten Text geschrieben, in dem es um das Versagen und die Kehrseiten humanistischer Menschenbildung geht. Zu DDR-Zeiten hätten die meisten ob solcher Rede die Achseln gezuckt, spätbürgerliche Philosophie, Krisenbewusstsein, unfähig, über die Grenzen der imperialistischen Gesellschaft hinauszudenken. Hochmut kommt vor dem Fall, in diesem Fall war's der unsre. Können wir heute vor dem Versagen des Humanismus die Augen verschließen?
Sloterdijk überdenkt die tausendjährigen Prozesse der Domestikation des Menschen, »in denen bisher dank intimer Verschränkungen von Züchtung, Zähmung und Erziehung Menschenprodukti-
on betrieben wurde« - nicht immer zum Guten, wie man weiß. Er spricht über die selektiven Wirkungen der Alphabetisierung, als nämlich zwischen den literaten und illiteraten Menschen eine Kluft entstand. Und er merkt in diesem Zusammenhang an, zu Recht, dass angesichts künftiger wissenschaftlich-technischer Entwicklungen ein ethischer »Codex der Anthropotechniken« nötig wird.
»Ob die langfristige Entwicklung auch zu einer genetischen Reform der Gattungseigenschaften führen wird - ob eine künftige Anthropotechnologie bis zu einer expliziten Merkmalsplanung vordringt; ob die Menschheit gattungsweit eine Umstellung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pränatalen Selektion wird vollziehen können - dies sind Fragen, in denen sich, wie auch immer verschwommen und nicht geheuer, der evolutionäre Horizont vor uns zu lichten beginnt.«
Auf diesen Satz hin haben wir uns in unserer Feuilletonredaktion die Köpfe heiß geredet, wie die Perspektive einer solchen Entwicklung denn einzuschätzen sei. Ich meinte, dass Frauen jede diagnostische Möglichkeit nutzen würden, gesunde Kinder zur Welt zu bringen, dass es ihr Bauch sei und ihr Entscheidungsrecht. Ein Kollege gab mir zu bedenken, dass wenn es einmal solche offiziell akzeptierten Techniken gebe, die Frauen unter Druck geraten würden. »Denk an die Krankenkassen. Oder denk an die Länder, wo sie nur männliche Nachkommen haben wollen.« Wenn man da einmal die Schleusen öffnet, meinte er, sei das alles nicht mehr zu beherrschen.
Klar- der Widerspruch zwischen unaufhaltsamer technischer Entwicklung und mangelnder gesellschaftlicher Reife. Aus Peter Sloterdijks Text lese ich nur das heraus: Dass er die Sache für eines jener Probleme hält, »die für Menschen zu schwer sind, ohne daß sie sich vornehmen könnten, sie ihrer Schwere wegen unangefaßt zu lassen«.
Darüber kann, muss man streiten, aber in der Öffentlichkeit wurde mit ihm nach den Regeln des Spiels »Stille Post« verfahren - wie unlängst bei Martin Walser. Der eine sagt »Bahnhof« und am Ende heißt's »der Zug fährt ab«. Ein Fall für Kommuni-
kationstheoretiker und Soziologen. Die Medien nehmen ihre Wächterfunktion nicht mehr wirklich wahr, sondern simulieren sie dort, wo dies besonders spektakulär erscheint. Künstliche Aufregungen werden produziert, weil das Eigentliche so ernst und so banal ist, dass es keine Quoten bringt. Allein was das Thema Gentechnik betrifft: Wenn das Publikum immer mal wieder alarmiert wird durch irgendwelche Artikel, bedeutet das nicht, dass die tatsächlichen Entwicklungen noch öffentlicher Kontrolle unterliegen.
Man kann Sloterdijk natürlich manches entgegenhalten. Wenn er Philosophie ein literarisches Genre nennt, müsste er die subjektiven Aspekte im eigenen Denken und bei anderen Philosophen eigentlich stärker zur Kenntnis nehmen. Über Plato, Nietzsche oder Heidegger zu sprechen, heißt doch auch deren historische wie private Lebensumstände und Mentalitäten mitdenken und vor allem den Kontext, in den ihre Aussagen gestellt werden. Andererseits hat Sloterdijk bei dem Gremium von Philosophen, vor dem er auftrat, auch vieles voraussetzen können. Auf selbstverständliche Weise geht er mit Philosophiegeschichte um, die für ihn wie ein »Kettenbrief durch die Generationen« ist, der immer wieder aufgeschlossene Leser findet. Wenn solches kritisches Wohlmeinen unter Denkenden nicht mehr gegeben ist, so muss man sich angesichts des Presserummels fragen, was bleibt dann von Humanismus und Philosophie?
Gewiss doch, Peter Sloterdijk wollte glänzen und mit mancher Formulierung auch schockieren. Ob er manchmal zu sehr auf Effekt bedacht war, darüber lässt sich streiten. Allein schon der Titel des Vortrags »Regeln für den Menschenpark« - denkt man da nicht an einen Zoodirektor, der alles unter sich hat? Andererseits, gibt es solche »Zoodirektoren« nicht schon längst, die die Welt unter sich aufgeteilt haben und skrupellos über Völker befinden? Sloterdijk hat einen Weltzustand in ein Bild gebracht, das erschreckt, das wir gerne schöner hätten, um uns über die Wirklichkeit hinwegzutäuschen. Im Alltag ist das jedem unbenommen, aber ein Philosoph muss seine Fragen rücksichtslos stellen. Kreativer Tabubruch ist geradezu von ihm zu verlangen, weil nur so gesellschaftlicher Diskurs in Gang gesetzt werden kann.
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