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  • Politik
  • Thomas Brussig: »Am kürzeren Ende der Sonnenallee«

Mikrokosmos mit Mauerblick

  • Michael Sollorz
  • Lesedauer: 2 Min.

Ihr längstes Stück lag in Westberlin, der Stadtbezirk Treptow bekam bei der Teilung von der Sonnenallee nur einen Zipfel, um die sechzig Meter kurz. In diesem Mikrokosmos mit Mauerblick spielt Thomas Brussigs zweites Buch, versammelt Motive einer Ostberliner Jugend in jener Zeit der Subbotniks und Diskussionsbeiträge, ängstlicher Westonkels und humorloser ABVs.

Um den engen Q3a-Wohnungen zu entkommen, trifft sich Michas Clique auf dem verlotterten Spielplatz, einem Ort aus Kindertagen. »Sie fühlten, wie es ist, ein Mann zu werden, und die Musik, die dazu lief, war immer stark.« Alle wollen die

schöne Miriam, die sich aber lieber mit Älteren rumtreibt oder gleich mit welchen von Drüben.

Erinnerung, stellt der Autor ans Ende, vollbrächte das Wunder, »einen Frieden mit der Vergangenheit zu schließen, indem sich jeder Groll verflüchtigt und der weiche Schleier der Nostalgie über alles legt, was mal scharf und schneidend empfunden wurde.« Das Buch erfüllt die ironische These. Brussig vermeidet Getöse, blickt mit liebevollem Spott auf die kleinen Dinge des Lebens, den Trotz und die Tricks von Michas Eltern, auf den unbeliebt-wortkargen Stasi-Nachbarn, der zum Schluss nur Leichenbestatter ist. Ein wunderschönes Bild: Eines Tages weht der Wind Micha einen mutmaßlichen Liebesbrief Miriams in den Mauerstreifen, wo er liegen bleibt, zum Greifen nah, ungelesen und unerreichbar.

Das Ganze geht flott los, versammelt Possen und Anekdoten, drollig zu lesen mit lachendem und weinendem Auge, sozusagen Schulbubenstreiche in den Farben der DDR, schier unglaublich, wäre man nicht dabei gewesen. Doch bald verläppert es sich, müht sich irgendwo zwischen Ottokar Domma und Schulaufsatz, ohne erkennbares Wohin und Warum.

Schade, zumal Brussig das Komische kann. In seinem ersten Buch bringt ein Stasimann mit seinem immergeilen Schwanz die Mauer zu Fall. Es war ein enormer Erfolg. »Helden wie wir« hat Erwartungen geweckt, den Autor bekannt gemacht und Volk & Welt ein schönes Sümmchen eingebracht. Insofern, ist es eines so renommierten Verlages würdig, jetzt einen Text nachzuschieben, dem nach fünfzig Seiten die Puste ausgeht, der noch nicht fertig ist? Das scheint zu sehr nach dem Markt geschielt, auf den Kino-Film, den Thomas Brussig geschrieben und Leander Haußmann inszeniert hat; er startet am 7 Oktober.

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