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  • Politik
  • Prof. Dr. Walter Friedrich, der Direktor des legendären Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung, wird 70

Ein Glücksfall für die Jugendforschung

  • Lesedauer: 4 Min.

Von Kurt Starke

Als Walter Friedrich 1966 das Gesetz über die Gründung des Zentralinstituts für Jugendforschung Leipzig (ZU) in den Händen hielt, war er 36 Jahre alt. Aus einfachsten Verhältnissen kommend, hatte ihn der Krieg von Schlesien nach Sachsen verschlagen, in die Landwirtschaft, erfüllt von der unbändigen Hoffnung, lernen und lehren zu können. Er wurde begeisterter Neulehrer, und über die ABF (Arbeiter- und Bauernfakultät) kam er zum Studium der Psychologie nach Leipzig.

Mit einer Handvoll junger Leute, aus denen bald 25, 50, 75 und dann über hundert wurden, träumte der promovierte und habilitierte Psychologe einen Traum: Ein sozialwissenschaftliches Institut ganz neuer Art zu schaffen, eins, das auf den Erkenntnissen verschiedener Fachdisziplinen, vor allem der Psychologie, Sozialpsychologie, Soziologie, Pädagogik, Kulturwissenschaft, Philosophie/Ethik und Sozialmedizin aufbaut, aber deren traditionelle Grenzen überschreitet, ein Institut, das interdisziplinär zusammengesetzt

ist, auf neue Art komplex forscht und sich mit konkreten empirischen Untersuchungen der Wirklichkeit stellt.

Friedrich hatte gerade sein erstes Buch geschrieben, das ein Modell für solche Untersuchungen bot: »Jugend heute«. Die Antworten der Jugendlichen mussten damals noch per Hand auf Lochkarte genommen und mit der Hollerithmaschine gezählt werden.

Schon bald entstand jedoch eine leistungsfähige Abteilung EDV. Sie bot einen exquisiten Service für das Institut, das im Verlaufe seiner mehr als 25-jährigen Existenz unter Leitung von Walter Friedrich über 600 empirische Untersuchungen durchgeführt hat, darunter Wiederholungsuntersuchungen und Intervallstudien, also jene Forschungen, bei denen dieselbe Population mehrfach auf die gleichen Variablen hin untersucht wird. Dies war nur möglich durch Kooperation und Arbeitsteilung innerhalb des Instituts, eine ausgefeilte Forschungstechnologie, verbunden mit einer außerordentlichen Arbeitsintensität. Walter Friedrich ging von einem zehn- bis. zwölfstündigen Arbeitstag aus, sechseinhalb Tage in der Woche. Wenn ein Manuskript am Freitag noch nicht vorlag, war seine stehende Re-

dewendung: »Du hast ja noch das ganze Wochenende.«

Die von den ZUlern erarbeiteten Seiten mussten monatlich zahlenmäßig abgerechnet werden. Qualität war vorausgesetzt. Quantität musste sein. Publikationen extra - die erhielten das Prädikat »besonders wertvoll«. Nicht allgemeines Gerede oder beliebige Präsentation waren das, was Walter Friedrich von seinen Mitarbeitern verlangte. Es musste etwas Schriftliches sein. Und das war schwer genug in jenen Zeiten, denn das Institut ereilten immer wieder Publikationsverbote. Es mag heute verwundern, wie viele Veröffentlichungen trotz des Verbotes zu publizieren aus dem Institut gekommen sind, darunter die berühmte Methodenbibel des ZU, der DDR-Bestseller »Liebe und Sexualität bis 30«, der übrigens genauso wenig in einem Forschungsplan enthalten war, wie die großen Partnerstudien des ZU, Bücher über die »Jugend konkret«, über das Leistungsverhalten; oder auch die halblegalen Protokolle verschiedener Konferenzen, die nicht selten mit Hilfe von Kooperationspartnern, z. B. der Karl-Marx-Universität Leipzig oder der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden erschienen. Und so konnte mehr empiri-

sches Material gestreut werden, als erlaubt war.

Friedrich deckte dies alles mit großer Selbstverständlichkeit. Ging es schief, dann übernahm er die volle Verantwortung. Er wollte die Gesellschaft zum Wohle der Menschen verändern und nahm daraus auch seine wissenschaftliche Motivation. Er litt, wenn es nicht voranging. Er schimpfte wütend über politische Dummheit, Bürokratie, über Ein- und Übergriffe. Er hatte einen analytisch scharfen Weitblick, genährt in erster Linie durch eigene Forschungen, aber genauso aus der Literatur, aus Gesprächen mit Wissenschaftlern und Freunden aus vielen Ländern. Dabei war er nie ein Sklave seiner Daten. Er verlangte Interpretationen, Erklärungen, Folgerungen, und dies bedeutete theoretische Anstrengung und Weitblick. Also musste gelesen werden. Die wichtigste wissenschaftliche Literatur - aus Ost und West - wurde im Institut seminaristisch behandelt.

Die Anstrengungen von Friedrich und seinen Mitstreitern waren gewaltig, das Institut, das immer wieder zentral zur Disposition stand, Ende der 80er Jahre ans sichere Ufer und in die neue Zeit zu

bringen. Es sah auch bis weit in das Jahr 1990 für das Institut sehr gut aus. Wissenschaftler aus den alten Bundesländern, teilweise auch aus anderen Ländern, drängten sich durch die Leipziger Stallbaumstraße und das kleine Sekretariatszimmer und machten Angebote zur Kooperation. Bei Institutsende existierten 27 gesamtdeutsche Projekte, zum Teil solche, die langfristig angelegt waren. Aber es kam bekanntlich ganz anders. Das ZU wurde per Telefon geschlossen, trotz aller nationalen und internationalen Proteste. Man hielt das ZU nicht einmal einer Evaluation durch den Wissenschaftsrat für würdig.

Kalt abserviert wurde auch der Wissenschaftler Friedrich, der für den Aufbau einer gesamtdeutschen Jugendforschung von unschätzbarem Wert, ja unerlässlich gewesen wäre. Anerkannte Wissenschaftler aus den alten Bundesländern und Institutionen, die ihn gern zur Mitarbeit gewonnen hätten, wurden gestoppt. Er hatte keine Chance, und doch gelang es ihm im Verein mit anderen, einige Forschungslinien des Instituts in empirischen Studien weiterzuziehen, Artikel zu schreiben und einige Bücher herauszugeben, gerade eben eine fast 600seitige Geschichte des ZU, die Bernhard Schäfers, einer der namhaften deutschen Soziologen, wegen ihrer Authentizität, ihrer inhaltlichen Substanz und ihrer sorgfältigen Edition einen dokumentarischen »Glücksfall« nennt.

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