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  • Politik
  • Vor 575 Jahren starb der tschechische Nationalheld Jan Zizka

Das blinde Volk und sein blinder Führer

  • Lesedauer: 5 Min.

Von Ralf Höller

Das größte Reiterdenkmal der Welt steht auf einem Hügel in Prag. Weithin sichtbar, verkörpert es den Feldherrn Jan Zizka, der sich am 14. Juli 1420 der Übermacht des habsburgischen Heeres unter Kaiser Sigismund an genau diesem Ort entgegenstellte. Der Hügel hieß ursprünglich Vitkov (Veitsberg); nach der Schlacht wurde er, wie auch der gesamte ihn umgebene Stadtteil im Osten der tschechischen Hauptstadt, in Zizkov umbenannt.

Jan von Trocnov wurde um 1360 - das genaue Datum ist nicht bekannt - im gleichnamigen südböhmischen Dorf in der Nähe von Budweis geboren. Als erste erwähnenswerte Begebenheit aus seiner Kindheit ist eine handfeste Rauferei mit seinen Spielkameraden überliefert, in deren Verlauf er sein rechtes Auge verlor. Seitdem trug er den Spitznamen Zizka, die tschechische Bezeichnung für »einäugig«. Der Gegensatz zwischen deutscher Oberschicht und tschechischem Landvolk prägte die südböhmische Grenzregion in der Zeit der tschechischen Reformation. Mächtige Familien, darunter die deutschstämmigen Rosenbergs und später die Schwarzenbergs aus dem benachbarten Böhmisch-Krumau (Cesky Krumlov), beherrschten auch tschechische Orte wie Trocnov. Mit allen Mitteln sicherten sie ihre Privilegien gegenüber dem gemeinen Volk ab, u. a. suchten sie zu verhindern, dass die Ideen des populären Re-

Jan Zizka. Kopf aus dem Wappen von Täbor, 1515

formators Jan Hus in Böhmen Fuß fassten.

Hus hatte - beeinflusst von seinem englischen Vorbild John Wyclif - die Ursache des Verfalls der Kirche in der Anhäufung ihres weltlichen Besitzes gesehen. Mit seiner Kritik schonte er weder den böhmischen Dorfpfarrer noch den römischen Papst. Er predigte für eine Kirche, die materiellen Werten entsagen und zu ihren Ursprüngen zurückkehren sollte. Dies brachte neben dem um seine Pfründe fürchtenden Klerus auch den deutschen Adel gegen ihn auf. Hus wurde zum Konzil nach Konstanz geladen, um seine Thesen

dort zu verteidigen. Obwohl der deutsche König Sigismund Hus vorher freies Geleit zugesichert hatte, landete der Häretiker, ohne überhaupt angehört zu werden, auf dem Scheiterhaufen.

Der Wortbruch des Kaisers und die Verbrennung des unglücklichen Reformators sorgten in Böhmen für große Empörung. Zizka, der einer verarmten tschechischen^ LandädefsfämiTie*efftstämmtet' h*ätte“sicn“* früh für die Ideen Hus' begeistert. Die religiösen Forderungen des Reformators wandelte er in weltliche um: Aufhebung der feudalen Privilegien, Gleichstellung aller Menschen, Umwandlung von Adelsund Ordensbesitz in Gemeineigentum und freie Beamten- und Offizierswahl durch Volk und Mannschaften.

In Täbor gründete Zizka seine Version des Königreichs Gottes auf Erden; den Namen der Kolonie hatte er der Heiligen Schrift entlehnt (Tabor ist der Name des Berges im Paradies). Auch in der Hauptstadt erhob sich das Volk gegen die katholische Herrschaft. Am 30. Juli 1419 erstürmten die Massen das Prager Rathaus, warfen die Ratsherren aus dem Fenster und vertrieben das deutsche Patriziat und alle Anhänger Habsburgs aus der Stadt. Vor lauter Aufregung über den Prager Fenstersturz erlitt der böhmische König Wenzel IV. einen Schlaganfall, an dessen Folgen er starb.

Nachfolger Wenzels wurde sein unter den Anhängern von Hus auf Grund seines Wortbruchs verhasster Bruder Sigismund. Gemeinsam mit Papst Martin V rief er zu einem Kreuzzug gegen die Hussiten auf. Unterstützt von 100 000 Söldnern aus

ganz Europa drang das habsburgische Heer rasch bis Prag vor. Mit ihren Gefangenen machten die Kreuzfahrer kurzen Prozess, es sollte ihnen nicht besser ergehen als ihrem religiösen Führer.

Als Zizka vom Vordringen der Kreuzfahrer erfuhr, setzte er sein Heer von ?-? Täbor aus-in Richtung Prag in Bewegung. Am Vitkov^kam es zur einziger^ aber entscheidenden Sch/acht “des* gesamten Kreuzzugs. Sigismund hatte die Moldau gegen Mittag an der großen Schleife zwischen den heutigen Stadtteilen Holesovece und Liben überquert. Bald schon sahen sich die schlecht ausgerüsteten Verteidiger auf der Veitsburg einer erdrückenden Übermacht der kaiserlichen Truppen gegenüber. Doch bevor Sigismund die Festung in seinen Besitz bringen konnte, schlich Zizkas Heer von Süden her durch die Weinberge an die Invasoren heran.

Auf ihr plötzliches Erscheinen waren die Kreuzfahrer nicht vorbereitet. Voran der Priester mit der Hostie, gefolgt von Bogen- und Pistolenschützen, in zweiter Reihe die Bauernsoldaten mit ihren Dreschflegeln und Spießen jagten die wild schreienden Hussiten den Angreifern einen solchen Schrecken ein, dass diese panikartig die Flucht ergriffen.

Obwohl nur einige hundert Soldaten des Kreuzfahrerheeres in der Schlacht fielen, unternahm Sigismund keinen zweiten Versuch, Prag zu erobern. König und Papst führten den Krieg gegen die Hussiten in der böhmischen Provinz fort. Doch auch hier erwies sich Zizka als der überlegene Taktiker. Er setzte in den Schlachten Kampfwagen ein, die mit leichten Kano-

nen bestückt waren. Durch diesen Schachzug hatten Zizkas überaus bewegliche Truppen mit der schwerfälligen kaiserlichen Reiterei bald leichtes Spiel.

Die Hussiten gingen sogar dazu über, von den Invasoren besetzte Burgen zurückzuerobern. Eine solche Festung war Rabi in Westböhmen, etwa 40 Kilometer südlich von Pilsen. Zizka hatte sich mit seinen Truppen bis auf Schussweite an die Burg herangearbeitet, als laut Schilderung einer zeitgenössischen Chronik etwas Unvorhergesehenes passierte: »Früh am Morgen, als die Sonne aufging, ließ er zum Angriff auf die Burg blasen. Er selbst stellte sich auf eine Anhöhe unter einen ? wilden Birnbaum, auf dass er das Vorankommen seiner Leute besser beobachten konnte. In diesem Moment wurde eine der Feldschlangen aus der Burg abgefeuert. Das Geschoss traf den Birnbaum. Als Zizka nach oben schaute, bohrte sich ein großer Holzsplitter in das gesunde Auge.«

Soweit die Legende. In Wirklichkeit wurde Zizka wohl von einem Bogenschützen ins Auge getroffen, vermutlich aus großer Entfernung, so dass die Verletzung nicht tödlich war. Er wurde sofort nach Prag gebracht, aber die Ärzte konnten sein Augenlicht nicht mehr retten. Doch auch als blinder Heerführer feierte Zizka weiter Erfolge, wie der römisch-katholische Prälat Aeneas Sylvius, der spätere Papst Pius II., zähneknirschend eingestehen musste: »Seine Verletzung behinderte ihn weder in der Burgeneroberung noch in der Kriegsführung. Und das blinde Volk war ganz zufrieden, dass es einem blinden Führer folgen durfte«.

Zizka fügte den Kaiserlichen noch eine zweite entscheidende Niederlage Anfang des Jahres 1422 in der Schlacht von Nemecky Brod zu. Keine drei Jahre später, am 11. Oktober 1424, starb der tschechische Nationalheld ganz in der Nähe, in der Burg Pribyslav, an der Pest.

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