Albanische Posten vor »Europas größtem Ghetto«
Orahovac ist das Ziel unserer Fahrt. Die Kleinstadt im Süden Kosovos, von Weinbergen umgeben, war im Juli 1998 nach einem Angriff der albanischen Untergrundarmee UCK auf die örtliche Polizeistation vier Tage lang Schauplatz heftiger Kämpfe. Nach serbischen Angaben gab es dabei 60 Tote. Korrespondenten der Berliner »taz« und der »Washington Post« berichteten damals unter Berufung auf Augenzeugen, die Serben hätten in einem Rachefeldzug 567 albanische Zivilisten umgebracht, darunter allein 430 Kinder. Eine daraufhin nach Orahovac beorderte EU-Beobachtermission fand weder Grä-
ber noch Augenzeugen. Schwendete weiß jetzt von 80 Toten.
Ein Beispiel nur für den Zahlenkrieg, der in und um Kosovo bis heute geführt wird. Um die »humanitäre Intervention« der NATO - den 78-tägigen Zerstörungskrieg gegen Jugoslawien - zu rechtfertigen, war zeitweise von 100 000 Toten auf Seiten der Kosovo-Albaner die Rede. Dieser Tage meldete die Chefanklägerin des Haager Tribunals, bisher habe man 4256 Tote gefunden, wovon 2108 exhumiert wurden. Berichte über mehr als 10 000 Opfer unter den Albanern - diese Zahl war auch von deutschen Politikern noch vor kurzem immer wieder genannt worden könne sie vorerst nicht bestätigen
Wir passieren einen Kontrollposten der KFOR, dann eine albanische »Wache«. Kein Kontrollposten, wie Schwendete betont, »die haben keinerlei Rechte«. Tatsache ist, dass die Albaner seit fast drei Monaten sämtliche Zufahrtswege nach Orahovac bewachen. Die wichtigste Straße
haben sie gänzlich blockiert, um - wie es heißt - zu verhindern, dass russische KFOR-Truppen die Kontrolle über Orahovac übernehmen. Denen trauen sie nicht, denn russische Söldner hätten während des Krieges auf Seiten der Serben gekämpft. Nirgends sonst in Kosovo darf eine Bevölkerungsgruppe der KFOR vorschreiben, welche Truppen wo eingesetzt werden. Als Serben bei Kosovo Polje Barrikaden errichteten, um sich vor albanischen Überfällen zu schützen, wurden ihre Sperren unverzüglich beseitigt.
In Orahovac leben nach KFOR-Angaben gegenwärtig 32 000 Albaner, 2200 Serben und 800 Roma - nicht zusammen, sondern durch niederländische Truppen voneinander getrennt. Im serbischen Sprachgebrauch ist die Oberstadt von Orahovac derzeit das »größte Ghetto Europas«, mancher spricht gar von einem Konzentrationslager. Viele Serben, die auf dem Platz vor der orthodoxen Kirche zusammengeströmt sind, stellen immer wieder die gleichen Fragen: »Warum kommen die Russen nicht? Warum holen sie uns hier nicht raus?« Sie beklagen den Mangel an Wasser, Strom und Heizmaterial für den nahenden Winter, beschweren sich über Schikanen, Überfälle und Entführungen durch Albaner. Offensichtlich ist, dass sich die Serben von Orahovac als Geiseln fühlen. Die Rede ist von einer Liste mit 200 angeblichen Kriegsverbrechern, deren Auslieferung die Albaner verlangen, bevor sie die anderen ziehen lassen. Und KFOR so der serbische Vorwurf- akzeptiere und unterstütze das, ohne Beweise für die Schuld der Verdächtigten zu haben.
Major Arno Schouwenaars,' der Sprecher des niederländischen Truppenkontingents, will von einem »Ghetto« nichts wissen. Seine Soldaten begleiteten serbische Bewohner zum Einkaufen in den albanischen Teil der Stadt, manche gingen sogar allein in einen Laden an der Grenze zwischen beiden Teilen, ein albanischer Bäcker liefere regelmäßig Brot für die Serben ab, und die Müllabfuhr werde überall ohne Probleme von Albanern besorgt. Es gebe durchaus Serben, die in Orahovac bleiben wollen. Doch dann ist unser Bus besetzt - von Frauen, Kindern und etlichen jungen Männern, die der Stadt entfliehen wollen. Unbarmherzig werden sie von den Carabinieris aus dem Fahrzeug gedrängt: »Go out!«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.