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Das Mailänder Blutbad und die Strategie der Spannung

Italien vor 30 Jahren: Eine Serie von Attentaten für den starken Staat Von Rainer Mathias

  • Lesedauer: 7 Min.

Foto: dpa

Adriano Sofri

Die Mailänder Landwirtschaftsbank nach der Bombenexplosion vor 30 Jahren

Foto: dpa/Archiv

Am 12. Dezember 1969 erschütterte ein Bombenattentat ganz Italien: die Emotionen der Menschen ebenso wie die politische Landschaft. Die Folgen beschäftigen heute noch die italienische Justiz.

In der Mailänder Banca di Agricoltura an der Piazza Fontana explodierte zur Zeit des größten Kundenandrangs, um 16.30 Uhr, eine Bombe. 17 Menschen wurden getötet, es gab 90 zum Teil schwer Verletzte. Drei weitere Bomben explodierten kurz danach in Rom: eine in einer Bank an der Via Veneto (14 Verletzte) und zwei am »Altar des Vaterlands« (vier Verletzte), dem riesigen Monument im Stadtzentrum, das der Verherrlichung der Nation und der Monarchie dient. Der 12. Dezember 1969 ging als »Mailänder Blutbad« in die Geschichte ein.

Seit Anfang 1969 hatte es in Italien 145 Attentate gegeben. Die schwersten - bis zu dem an der Piazza Fontana - waren die Anschläge gegen die Mailänder Messe (19 Verletzte) und das Wechselbüro im Hauptbahnhof der norditalienischen Metropole am 25. April, sowie eine Bombenserie in mehreren Eisenbahnzügen am 8./ 9. August 1969 (12 Verletzte). In 95 Fällen waren die Attentate klar den Rechtsextremisten zuzuordnen: entweder weil diese als Täter eindeutig identifiziert wurden oder wegen des Objekts (Büro linker Parteien, Synagogen, Gewerkschaften). Von den übrigen rund 50 -Anschlägen waren die meisten ungeklärt. Nur ein kleiner Teil - überwiegend sehr schwache Sprengsätze und kleine Brandbomben - konnte mit linksradikalen Gruppen in Zusammenhang gebracht werden.

Dennoch setzten Polizei und Presse nach den Anschlägen vom 12. Dezember 1969 ausschließlich auf die »rote Spur«. Überall in Italien wurden nach offenbar schon lange insgeheim vorbereiteten-Listen mehrere hundert Anarchisten, Maoisten und Aktivisten anderer linksradikaler Gruppen festgenommen. Einer von ihnen, Pinelli, Eisenbahner und Anarchist, kam in der Nacht vom 15. auf den 16. Dezember während des Verhörs im Mailänder Polizeipräsidium durch einen Sturz aus einem Fenster des 4. Stocks ums Leben. Offizielle Polizei-Version: Pinelli sei voller Verzweiflung in den Tod gesprungen, nachdem sein Alibi geplatzt war und man ihm (fälschlich) das angebliche Geständnis eines anarchistischen Genossen vorhielt. Verdacht der radikalen Linken, zu deren Sprecher sich vor allem die in den 70er Jahren in der Jugend einflussreiche Gruppe Lotta Continua machte-. Die Polizisten hätten Pinelli aus dem Fenster geworfen, hauptverantwortlich für seinen Tod sei der Kommissar Calabresi.

Als Calabresi am 17 Mai 1972 auf offener Straße von Unbekannten erschossen wurde, waren wahrscheinlich weite Teile der radikalen Linken Italiens von mehr als nur »klammheimlicher Freude« erfüllt. Viele Jahre später, im Juli 1988, wurde der frühere Chef der längst nicht mehr existierenden Organisation Lotta Continua, Adriano Sofri, zusammen mit den LC-Aktivisten Ovidio Bompressi und Gior-

gio Pietrostefani verhaftet. Grundlage der Anklage war nichts weiter als die widersprüchlichen Aussagen eines »reumütigen Kronzeugen«, selbst ehemaliges LC-Mitglied und wegen nachgewiesener krimineller Delikte von einer langen Gefängnisstrafe bedroht. 1991 wurden Sofri und seine beiden Mitangeklagten zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt; der »Kronzeuge« kam mit elf Jahren davon. Erst Ende August 1999 öffnete ein Gericht in Venedig auf Grund der von der Verteidigung vorgelegten neuen Beweise den Weg zur Wiederaufnahme des Verfahrens. Seither sind Sofri und Genossen wieder auf freiem Fuß. Im Oktober begann der Revisionspfozess! .....'

In der »taz« schwankt die Bewertung Sofris zwischen den fixtremen: “»Er tut, was in Deutschland fehlt: die Irrtümer von gestern reflektieren« (Friederike Hausmann, 5.10.99), und der Behauptung, Sofri und seine Freunde seien für das »gewalttätige Klima der 70er« mitverantwortlich und hätten nichts dazugelernt (Werner Raith, 26.8.99). Bei der zweiten Bewertung werden Ursache und Wirkung in eklatanter Weise verkannt.

Zurück zu 1969: Am 16. Dezember, einen Tag nach dem Fenstersturz Pinellis, präsentierten Polizei, Justiz und Medien ihre »rote Bestie«, den Mann, der angeblich die Bombentasche in die Banca di Agricoltura gebracht hatte. Er hieß Pietro Valpreda, ein überwiegend beschäftigungsloser Tänzer aus der anarchistischen Gruppe »22. März«. Schon nach den früheren Bombenanschlägen vom 25. April und 8./9 August 1969 - für die heute zweifelsfrei Rechtsextremisten als Täter feststehen - war Valpreda festgenommen und verhört worden. Jetzt fand sich ein Taxifahrer, der Valpreda als den Mann identifizierte, der sich am Nachmittag des 12. Dezember, eine schwarze Tasche in der Hand, zur Piazza Fontana fahren ließ. Ein wahres propagandistisches Trommelfeuer setzte ein gegen die »roten Mörderbanden«, die selbst vor blutigen An-

schlägen an Plätzen des öffentlichen Lebens nicht zurückschreckten.

Es war nicht allein, aber doch in ganz besonderem Maß das Verdienst von Lotta Continua, sich von Anfang an gegen die Vorverurteilung Valpredas und gegen die Festlegung auf die »rote Spur« gestellt zu haben. Lotta Continua, aber auch die KP-Dissidenten um die Zeitschrift »il manifesto«, leisteten eine großartige Gegeninformation. Sie zeigten die Widersprüche der offiziellen Hypothesen auf, brachten neue Zusammenhänge ans Tageslicht (die ihnen teilweise direkt von Personen aus

dem Staatsapparat zugespielt wurden), nährten die Zweifel und hatten schließlich die Plausibilität und erwiesenen Fakten auf ihrer Seite. Im Dezember 1971 wurden im Zusammenhang mit dem Bombenanschlag von der Piazza Fontana der Buchhändler und Verleger Giovanni Ventura und der Anwalt Franco Freda verhaftet, bekannte Aktivisten aus dem besonders militanten und provokatorischen Organisationswirrwarr am Rande der neofaschistischen MSI. In ihrem Besitz fand die Polizei große Mengen Waffen und

Sprengstoff. Besonders verdächtig war Freda, weil er im September 1969 in Bologna 50 deutsche Küchenwecker gekauft hatte, wie sie für die Zeitzündung der Bomben am 12. Dezember 1969 benutzt worden waren. Fredas Behauptung, er habe die Wecker im Auftrag eines algerischen Geheimdienstlers besorgt, der sie an palästinensische Terroristen weitergegeben habe, war unglaubwürdig - zumal Israels Polizei erklärte, dass solche Zeitzünder niemals von Palästinensern benutzt worden seien. Im Februar 1979 wurden Freda und Ventura schließlich wegen des Blutbads in der Banca di Agricoltura zu lebenslanger Haft verurteilt - in der nächsten Instanz jedoch mangels Beweisen freigesprochen.

So sind die Hintergründe der Anschläge vom 12. Dezember 1969 bis heute offiziell immer noch nicht aufgeklärt. Als gesichert kann aber gelten - und davon geht auch der parlamentarische Untersuchungsbericht der so genannten Commissione Stragi (strage = Blutbad, Massaker) aus -, dass diese Bombenattentate Bestandteil einer von Rechtsextremen und Geheimdienstlern geplanten »Strategie der Spannung« waren. Ziel war im engeren Sinn, die Anschläge der Linken in die Schuhe zu schieben. Im weiteren Sinn ging es aber auch darum, in der Bevölkerung ein Gefühl der Verunsicherung zu schaffen, um den Boden für eine »Sicherheitspolitik der starken Hand« vorzubereiten.

Im Zusammenhang dieser »Strategie der Spannung« sind eine Reihe geheimbündlerischer Strukturen zu sehen, die in den 70er und 80er Jahren aufgedeckt wurden. Die wichtigsten dieser Geheimbünde waren die »Rosa dei Venti« (Windrose) als rechtsextremer innerer Zirkel innerhalb des Armeegeheimdienstes SID, die von Licio Gelli geführte Loge »P 2« mit Verbindungen zu praktisch allen staatstragenden Parteien, und das unmittelbar vom CIA und NATO-Kreisen aufgezogene und geleitete Netz »Gladio« (Schwert). Ihr gemeinsamer Nenner war eine aggressiv rechte, antikommunistische und antisoziale Orientierung, verbunden mit einer starken Tendenz zu diktatorischen oder zumindest autoritären Politik-Optionen. Der Untersuchungsbericht der parlamentarischen Commissione Stragi konstatierte, dass die Ermittlungen über die schlimmsten Bombenanschläge seit dem 12. Dezember 1969 Von Teilen des Staatsapparats systematisch verschleppt; behindert' und fehlgeleitet wurden. Zu vergessen ist auch nicht, dass sich zwei Jahre zuvor, 1967, in Griechenland eine Junta faschistischer Generäle an die Macht geputscht hatte - nach von der NATO vorbereiteten Plänen und nicht ohne direkte Mithilfe des CIA. Die »Strategie der Spannung« basierte auf den selben NATO-Plänen und auf dem gleichen Typ von Bündnis zwischen Geheimdiensten und Rechtsextremisten. Mehrere Drahtzieher der »Strategie der Spannung« standen erwiesenermaßen in engen Beziehungen zur Athener Junta.

Die radikale Linke, und sogar zahlreiche Linke außerhalb dieses Spektrums, haben damals eine Antwort auf die Tatsache zu geben versucht, dass in Italien ein in erheblichen Teilen pro-faschistischer, krimineller, nicht mehr demokratisch kontrollierbarer Staatsapparat mit international vernetzten geheimbündlerischen Strukturen existierte. Viele meinten sogar, geradezu in der Tradition der antifaschistischen Resistenza zu handeln, wenn sie auf diese Situation mit bewaffnetem Terror gegen die Träger solcher Strukturen reagierten. Selbst diese Annahme war, von den damaligen Voraussetzungen her betrachtet, weder a priori absurd noch völlig grundlos.

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