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Die Theorien der Besitzindividualisten

  • Lesedauer: 6 Min.

Bückling vor Kapitalseignern - eder hat seinen Platz in der Gesellschaft, um 1900

Verkauf von Arbeitskraft in einer AEG-Gehäusewicklerei, um 1900

Privates Vermögen wird in diesem Kontext als Panzer des Individuums gegen die Begehrlichkeiten der anderen Individuen und auch gegen die des Staates verstanden. Dem Staat obliegt also nicht mehr, eine gerechte Verteilung von Eigentum zu sichern, sondern das individuelle Eigentum zu schützen. Weiter wurde gefolgert: Gleichheit oder gar Gemeinschaftlichkeit des Besitzes tötet die Individualität, ebenso jeder Eingriff des Staates in Eigentumsrechte. Insbesondere Max Stirner und Friedrich Nietzsche haben diese Denklinie ausgeführt. Dabei wird die Idee der Gleichheit aller Menschen, die dem Besitzindividualismus ursprünglich zu Grunde lag, aufgegeben und individuelle Freiheit erscheint (wieder) mit der ökonomischen Ungleichheit (und damit mit Unfreiheit anderer) verträglich.

Die klassische bürgerliche Ökonomie und die mit ihr verknüpfte politische Theorie des Liberalismus betrachten die Gesellschaft als ein sich selbst regulierendes System, dessen zentralen Elemente Privateigentümer sind und dessen Regulationsmechanismus der Markt ist. Adam Smith formuliert. »Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes

Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe, und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen... Dann lebt jeder vom Tausch,... und die Gesellschaft selbst wird eigentlich eine Handelsgesellschaft.« Der Markt soll heilsame Wirkungen in mehrfacher Hinsicht haben: Er treibt den Fleiß und die Innovationsbereitschaft der Marktteilnehmer an. Er stellt immer wieder das Gleichgewicht zwischen Nachfrage und Angebot her. Er sorgt dafür, dass der Egoismus des Einzelnen transformiert wird in allgemeines Wohl. Also: Es bedarf keines Staates, keiner politischen Aktion, um soziale Gerechtigkeit und Gleichheit zu bewirken. Der Staat kann sich nunmehr darauf beschränken, die Funktion der Märkte zu gewährleisten. »Wettbewerb auf den Produktmärkten und offener Handel sind von wesentlicher Bedeutung für die Stimulierung von Produktivität und Wachstum. Aus diesem Grund sind Rahmenbedingungen, unter denen ein einwandfreies Spiel der Marktkräfte möglich ist, entscheidend für wirtschaftlichen Erfolg...«. Dies ist nicht von Adam Smith, sondern stammt aus dem Schröder-Blair-Papier.

Diese Beschreibung von Marktwirtschaft beruht indes auf Voraussetzungen, die unter kapitalistischen Verhältnissen nicht gegeben sind. Dort gibt es die Gleichmächtigkeit der Marktteilnehmer nicht - weder in quantitativer Hinsicht (Geldwert des Eigentums des Einzelnen) noch in qualitativer (Besitzer von Produktionsmitteln und die von Arbeitskraft sind auf dem Markt in völlig ungleicher Position). Die kapitalistische Marktwirtschaft erweist sich vielmehr als unbändige Maschinerie, die Vermögensungleichheit vorantreibt und die kaufträchtige Nachfrage der »abhängig Beschäftigten« immer wieder hinter den produktiven Potenzen moderner Wirtschaft zurückbleiben lässt.

Schließlich behaupten die Besitzindividualisten, nur eine Ordnung mit Privateigentum auch an Produktionsmitteln kön-

ne effektiv und leistungssteigernd wirken. Dies sei nunmehr vor allem den Managern der großen Betriebe zu verdanken, denn sie und nicht die Eigentümer und Aktienbesitzer bestimmen seit der wissenschaftlich-technischen Revolution die wirtschaftliche Entwicklung. Damit habe am Ende des Jahrtausends die Eigentumsfrage ihre brisante Bedeutung verloren.

Die skizzierten bürgerlichen Eigentumsideen durchzieht eine gemeinsame Tendenz: die Losungen der Aufklärung von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« werden ihres ökonomischen Gehalts entkleidet, erscheinen lediglich als Wertekatalog und politisch-moralische Orientierung, die in Verfassungen fixiert werden kann. Es wird die Vorstellung suggeriert, man könne politische Demokratie und soziale Gleichheit ohne Wirtschaftsdemokratie, ohne Gleichberechtigung beim Zugriff auf Produktionsmittel gewährleisten. Die genannten Eigentumstheorien haben zwar seit der Mitte unseres Jahrtausends dazu beigetragen, dass die alte Eigentumsordnung, Leibeigenschaft und feudale Privilegien, zerschlagen wurde und dass in der Verfügungsgewalt von Unternehmern und Kaufleuten ausreichend Kapital akkumuliert wurde, um die neuen Produktionseinheiten der Manufaktur und der Industrie zu installieren. Die liberalmarktwirtschaftlichen Konzepte legitimierten aber auch die neu entstehenden Abhängigkeiten und Fesseln für die Arbeiter und Kleineigentümer. Und bald kam zur Sprache, dass die kapitalistische Eigentumsordnung weder Wohlstand für alle noch Brüderlichkeit brachte.

Anknüpfend an die alte Erkenntnis, dass die Jagd nach maximalem Privatbesitz humanes Zusammenleben zerstört, brachten vor allem Saint-Simon, Owen, Fourier wichtige Neuerungen in den ge-

sellschaftlichen Diskurs ein. Die Eigentumsverhältnisse werden historisch betrachtet. Die ideale Eigentumsordnung wird nicht als Gebot Gottes oder einer statischen Vernunft angesehen. Verschiedene Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung schließen auch unterschiedliche Eigentumsformen ein. Die nunmehr sich herausbildende Industrie erfordert neue.

Die Bedürfnisse werden nicht mehr normiert wie bei den frühen »brüderlichen Gemeinschaften«. Bei Saint-Simon steht die Freisetzung der menschlichen Leidenschaften und Wünsche im Mittelpunkt seiner theoretischen Konstruktionen. Bei allen Theoretikern dieser Richtung sind Asketismus und rohe Gleichmacherei von der Tagesordnung gestrichen. Ökonomische und politische Steuerungen werden als einheitlicher Prozess betrachtet, ausgehend von der Beobachtung, dass nunmehr die Produktion selbst einen kollektiven Charakter angenommen hat. Saint-Simon fordert, »in absolut derselben Weise über Staatsangelegenheiten wie über Angelegenheiten zu beraten, die für den einzelnen von Interesse sind und eine nationale Vereinigung als ein Industrieunternehmen anzusehen, das die Aufgabe hat, jedem Mitglied der Gesellschaft im Verhältnis zu seinem Einsatz - so viel Wohlstand und Wohlbefinden wie möglich zu verschaffen«. Über die optimale Eigentumsordnung haben die »utopischen Sozialisten« freilich weit auseinander gehende Ansichten. Owen sieht sie im genossenschaftlichen Gemeinbesitz, Fourier dagegen in Phalansteres, in denen die drei Sorten von Privateignern von »Fähigkeiten« (Kapital, Arbeit, Talent / Intelligenz) harmonisch zusammenwirtschaften.

Marx und Engels begründen Möglichkeit und Notwendigkeit gesellschaftlichen Eigentums an den neuen industriellen Produktionsmitteln in einer komplexen Weise. Sie halten entschieden und durchgängig Besitz an Produktionsmitteln und Eigentum an Konsumgütern auseinander. Von da aus ist das sozialistische Leis-

tungsprinzip ableitbar und zu begründen, wie die Gleichheit in der Stellung zu den Produktionsmitteln weder zu Verzicht noch Gleichmacherei in der Konsumsphäre und der individuellen Entwicklung führen müsse. Arbeit wird konsequent als Quelle allen Reichtums und Grundlage des Menschseins überhaupt erfasst. Die Eigentumsfrage wird im gesamten Reproduktionszusammenhang erörtert, also nicht als statische Zuordnung Individuum - Sache oder als Verteilung von Gütern. Als entscheidendes Regulativ und Steuerungsinstanz für die Gesellschaft erscheint so die Verfügung über Produktionsmittel - nicht der Markt. Damit tritt als Kern der Eigentumsproblematik die Beziehung von Produzent und Produktionsmitteln hervor.

Die Geschichte kennt Produzenten, die individuell oder kollektiv über ihre Produktionsmittel verfügen (Jäger und Sammler der Urgesellschaft, freie Bauern, Handwerker, freie Berufe - Werktätige im Sozialismus, in Klöstern, Gemeinschaftshöfen, Genossenschaften), Besitzer von Produktionsmitteln, die selbst nicht produzieren (Sklavenhalter, Feudalherren, Kapitaleigner), Eigentümer von Arbeitskraft ohne Besitz an (entscheidenden) Produktionsmitteln (Leibeigene, Arbeiter, Angestellte), Menschen, die weder über ihre eigene Arbeitskraft noch über Produktionsmittel verfügen können (Sklaven, Arbeitslose).

Die hochentwickelte, nur höchst arbeitsteilig herstellbare und einsetzbare Technik und die Organisation entsprechend großer Produktions- und Handelseinheiten sind heute die bestimmenden Quellen von Produktivität. Jede Regulation, jede Entscheidung über die Produktion hat heute notwendigerweise tiefgreifende Auswirkungen auf andere Menschen. Das Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln bedeutet aber nunmehr, dass Einzelne über gesellschaftliche Ressourcen ohne wirksame Eingriffs- und Kontrollmöglichkeiten der Betroffenen verfügen können. So ist ein Widerspruch zwischen vergesellschafteter Produktion und privater Verfügung über die Produktionsmittel entstanden. Damit scheidet zugleich die traditionelle Lösungsvariante von der Gründung einer guten Gesellschaft, die auf etwa gleichmächtigen kleinen Produktionseinheiten beruht, aus. Es scheiden aber auch Versuche aus, die anzustrebende Vereinigung von Arbeitenden und Produktionsmitteln unmittelbar und kurzschlüssig, ohne vermittelnde Institutionen und Instrumente wie Geld, Verwaltungen u.a. herzustellen, wie es Robert Kurz empfiehlt. Die syndikalistische Lösung im ehemaligen Jugoslawien wiederum war ebenso wenig erfolgreich wie das monolithische Staatseigentum an Produktionsmitteln in den »realsozialistischen« Staaten.

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