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Junger Thüringer bittet an den Stutenmilch-Tresen

Landwirt erbte Kaltblüter und entdeckte in Kurbädern ausgefallene Marktlücke

  • Lesedauer: 3 Min.

Von Stefan Tesch, Bokelnhagen

Was Cleopatra schon wohlig zu preisen wußte, entdeckte ein junger Thüringer neu: die labende wie heilende Wirkung von Stutenmilch. Auch wenn Konrad Handt noch nie selbst darin eintauchte, in den niedersächsischen Kurbädern Bad Lauterbach und Bad Sachsa steht eine zunehmende Zahl von Patienten auf die von allerlei Mythen umwobene süßlich-weiße Flüssigkeit. Mit Genehmigung des Kurdirektors bittet er hier in -Sanatorien regelmäßig an den Milchtresen. Und der Umsatz kommt, auch wenn sich Handt, wie er lachend versichert, manchmal mehr als Heilpraktiker denn als Landwirt vorkommt. »Viele Menschen erzählen mir, ehe ich ihnen zu einer Stutenmilchkur rate, ausführlich ihre Leidensgeschichte«, so der 40-Jährige,

der auch Vorträge über die therapeutische Wirkung des der Muttermilch ähnlichen Getränkes hält.

Glaubt man, was schon Marco Polo über die alten Mongolen berichtete und der russische Arzt Postkinow wissenschaftlich zu begründen suchte, so taugt die extrem fettarme Milch der Pferde in der Tat als fast allumfassendes Elixier. Sie stärkt die Immunkraft, lindert Hauterkrankungen und Allergien, bekämpft Magen- und Darmleiden, stärkt Herzmuskeln und Gefäße, sie beugt Rheuma und Gicht vor, hilft gegen Konzentrationsschwäche, Angstzustände und Sonnenbrand, unterstützt gar die Potenz des Mannes. Schier unmöglich, alles aufzuzählen, was ihre Verfechter der Stutenmilch an Heilkraft zuschreiben. Auf die Frage, ob sie damit am Ende vor allem als Glaubensmittel wirke, lächelt der Eichsfelder nur vielsagend, so als wolle er sagen: Ohne den festen Glauben an die eigene Genesung misslingt halt

jede Therapie. Mund-Propaganda unterstützt seine Direktvermarktung.

Weil immer mehr Patienten offenbar auch nach der Kur nicht mehr davon lassen können, wurde der Versand von gefriergetrockneter Stutenmilch bereits zum zweiten Standbein. Dabei sind diese Produkte nicht billig, und Krankenkassen beteiligen sich nur in Ausnahmen an den Kosten, so bei schweren Stoffwechselerkrankungen im Kindesalter. Doch jüngst schrieb Handt die Mutter eines Jungen, der an einer Hautkrankheit leidet, dass ihr die AOK Hessen direkt zu Stutenmilch riet, samt Kostenzuschuss. Seine Marktlücke entdeckte der diplomierte Tierwirt per Zufall. Als Produktionsleiter der Bockelnhagener LPG ging er nach 1990 zunächst mit verwegenen Plänen schwanger, die Genossenschaft zu privatisieren. Als keiner mitzog, entschloss er sich, mit Bruder Dieter das einst vom Vater eingebrachte Vermögen herauszulösen und sein Modell

auf eigene Faust umzusetzen. An Geld erhielten sie zwar keinen Pfennig, dafür aber zwei große Ställe und die 112 Kaltblüter der LPG, die früher im Forst gearbeitet hatten. »Sonst wären diese nur beim Rossschlächter gelandet«, meint Handt.

An einem Dezembertag standen die Brüder da, ohne Ernte in den Scheuern, und wussten nicht, wie ihre Familien und die 112 Tiere über den Winter kriegen. »Worauf wir uns da einließen, dafür reichte anfangs unsere Fantasie nicht«, erinnert sich Handt. »Wir konnten nur ein zeitiges Frühjahr anbeten, um schnell Land anzupachten und mit dem Weideauftrieb zu beginnen.« Auch die Banker waren nicht willens, die Pferdenarretei zweier Ostler zu finanzieren. So gebaren sie die Idee mit der Stutenmilch, besorgten sich Literatur, besuchten westdeutsche Pferdehöfe. Letztlich eine glückliche Fügung, ist der Thüringer sicher: »Denn die Milch macht die Pferdezucht erst rentabel«. Gemolken werden die Stuten drei Mal am Tag, geben dabei drei bis vier Liter Milch - im Jahr etwa 700 bis 800 Liter. Und so pur, wie sie aus dem Euter fließt, trinken sie dann die Patienten. Mittlerweile öffnete in dem Gestüt im thüringischen Bokelnhagen gar ein kleiner Ferienhof: zum Bett für die Nacht gehört auch das Glas Stutenmilch am Morgen.

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