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  • Politik
  • Begegnung mit dem Sänger/Komponisten Dirk Michaelis

Lust auf den Blick in den Spiegel

  • Christine Wagner
  • Lesedauer: 4 Min.

Dirk Michaelis hat den langsamen, schweren Weg gewählt. Mit der 89er DDR-Abschiedshymne »Als ich fortging« sagte der Frontmann nicht hur dem Land, sondern auch seiner Band Karussell ade. Und beschloss, von nun an sein Glück kompromisslos allein zu suchen. Im Unterschied zu den trotzigen Nostalgikern vergaß er schnell den schon errungenen Publikumsbeifall. Und fing ganz von vorn an. Der Texter Michael Sellin half ihm dabei. Damit das erste Solo-Album mit neuen Songs erscheinen konnte, gründete Michaelis das Label ftockChanSong. Der Name ist Programm, um sich den ewigen Schubladen der Öffentlichkeit durch eine eigene zu entziehen. Auf dem Label darf Dirk M. nicht nur Sänger, sondern auch Produzent, Promoter, Sekretär und Transporter sein. »Das ist kreativer als ein Major Deal, bei dem außer Versprechungen nichts passiert«,

winkt der anspruchsvolle Künstler ruhig ab. Irgendein Ereignis in seinem Leben hat ihm nicht nur graue Haare, sondern auch eine beneidenswerte Portion Gelassenheit beschert. Natürlich will der Mittdreißiger mindestens noch mal so erfolgreich und berühmt wie zu DDR-Zeiten werden, doch »nicht um jeden Preis«.

Durch die Wende hat das Wörtchen Erfolg für ihn plötzlich einen anderen Sinn bekommen. Für ihn zählt, »dass ich aus eigener Kraft und Engagement meine Miete bezahlen und meine Familie ernähren kann«. Mit Kunst, die seinen Gedanken und Gefühlen entspringt und mit der er sich wohl fühlt auf der Bühne. »Was habe ich davon, wenn ich gut bezahlten Schnulli singe, aber todunglücklich damit bin«, meint er. Da ist er wieder, der alte Anspruch des Ostrock. Immer auf der Suche nach der Wahrheit. Doch Michaelis hält sich nicht klebrig an den Wurzeln fest, sondern gibt ambivalenten Gefühlen Raum. Er kann sich so herrlich locker zu eigenen Fehlern bekennen. Wenn er nur manchmal etwas wütender sein könnte ...

Einen Vertrag mit einem Major hätte er schon mehrmals haben können, aber »ich bin in meiner Entwicklung zu weit, um mich veralbern zu lassen«. Als Inhaber einer eigenen Firma mag er sich von den Großen mit ihrem bürokratischem Apparat nicht abzocken lassen. Er weiß, was er an Vorleistungen für eine CD-Produktion zu erbringen hat. Und deshalb mag er nicht einsehen, dass er »90 Prozent meiner Anteile abgeben muss«. Michaelis ist ein Prinzipienmensch. Der Künstler mit den herausfordernden Augen, der gern über sich lacht, passt mit seinen zeitlosen Songs auch nicht zu den Geschäftemachern mit ihren starren Markt- und kurzlebigen Chartinteressen. »Machen wir uns nichts vor: das Showbusiness ist mitunter eine sehr theatralische Angelegenheit«, lacht er abgeklärt. Etwas Bitternis schwingt mit. Und etwas trotzig fügt er hinzu: »Ich färbe mir meine grauen Haare nicht. Und wenn mir die Haare ausgehen, werde ich mir eine Mütze aufsetzen - aber nur, wenn es kalt ist.« Einen Spruch von Sammy Davis ist sein Lebensmotto ge-

worden: Du kannst Talent und Vermögen haben. Das Wichtigste aber, was du brauchst, ist Stil. Und den hat sich der Musiker mit nachdenklich-gefühlvollen Balladen und kraftvoll-melodiösem Rock kreiert. Die Fangemeinde wächst stetig. Allein durch die Kraft des Buschfunks, denn die Medien mit ihren Formatradios haben auch sein viertes Solo-Album »Halleluja« weitgehend ignoriert. Anfangs freute Michaelis sich, wenn er kleine Clubs füllte. Mittlerweile wagt er sich an große Hallen wie den Berliner Tränenpalast.

Wenn sich der zierliche Mann an den Flügel setzt, den Finger hebt, wird es sofort still im Saal. Alle Augenpaare und Ohren sind auf ihn gerichtet, der mit seiner warmen Stimme und seinem lebendigen Gesicht Gefühle bis in die hinterste Reihe schickt. Egal, ob er vom »Stillen Dorf« singt, dessen vertraute Harmonie täuscht, weil der Bauer noch immer ablehnt, was er nicht kennt. »Soviel Freundlichkeit/ Die zum Himmel schreit«, entspringt es traurig seiner Stimme. Oder ob er dem alten Clown ein Lied widmet. Weil der sich schämt, nur noch geduldet zu sein - obwohl ihn die Kinder mit seinen melancholischen Spaßen lieben. Oder ob er Gänsehaut zaubernde Liebeslieder wie »Felsenfest« oder »Einmal ist es Zeit« anstimmt. »Nicht nur überleben ... auch lebendig sein« mag der Sänger mit der offenen Seele.

Da dem Vollblutmusiker die Töne so wichtig wie die Wörter sind, experimen-

Vertneb Buschfunk: Rodenbergstr.8,10439 Berlin

tiert er gern. Mal tritt er solo auf, mal im Trio. Mal verliebt er sich in Bläser, mal in Percussion. Zur Zeit hat er Lust auf eine »richtige, klassische Band«, mit der er sich »musikalische Späßgen« leistet. Dann lacht bei Michaelis das Kind im Manne. Die Ängstlichen im Publikum flüstern Michaelis die Worte der Songs zu, die Mutigeren singen mit. Ein unsichtbares Netz umspannt die Leute im Saal und den Mann da oben, den viele als Freund empfinden. Weil er ihr Lebensgefühl teilt. Und ihnen Mut macht mit seinen Songs. Michaelis teilt das Gefühl jener Verlierer, die nicht an ihren Niederlagen zerbrechen, sondern daran wachsen.

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