Der entzauberte Zauberlehrling

Autor und Regisseur Tariq Ali über Obamas gebrochene Versprechen, die Chicagoer Maschinerie und John Lennons Vision

  • Lesedauer: 10 Min.
Der Schriftsteller und Filmemacher Tariq Ali thematisiert in seinen Büchern und Filmen vor allem die Konflikte zwischen den westlichen und islamischen Gesellschaften (u. a. »The Clash of Fundamentalisms«, »Bush in Babylon«). Große Resonanz auch in Deutschland fand sein Buch »Piraten der Karibik: Die Achse der Hoffnung«. Nun ist auf dem deutschen Buchmarkt von ihm erschienen »Das Obama-Syndrom. Leere Versprechungen, Krisen und Kriege« (Heyne, 256 S., 8,99 €).

nd: Herr Tariq Ali, in Ihrem neuen Buch »Das Obama-Syndrom« gehen Sie scharf ins Gericht mit dem ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten. Andererseits scheinen Sie nicht allzu sehr enttäuscht zu sein. Haben Sie vorhergesehen, dass Barack Obama seine Versprechen, die er während seines ersten Wahlkampfes machte, nicht einhalten würde?
Tariq Ali: Mein Hauptargument ist, dass Obama eine Kontinuität zu der vorhergehenden Bush-Administration verkörpert und keinen Bruch. Dies hat Bush selbst erkannt und sich hoch erfreut über Obama erklärt. Sein Kompliment war kein diplomatisches Gerede, diente auch nicht dazu, die Europäer zu ärgern, sondern kam aus tiefster Überzeugung.

Ich habe von Obamas Antritt als Präsident der USA nicht all zu viel erwartet, jedoch zumindest Verbesserungen und Fortschritte bei den Bürgerrechten und Freiheiten. Nicht mehr und nicht weniger. Aber auch um diese ist es jetzt sogar schlechter als unter der Präsidentschaft von Bush junior bestellt. Es wurden in Obamas Amtszeit weniger Häftlinge aus Guantanamo entlassen, als unter seinem Vorgänger; ganz zu schweigen von dem unerfüllten Versprechen, das Lager aufzulösen. Zudem hat Obama nicht mit der »Lizenz zum Töten« von Bush junior gebrochen, also Morde anordnen zu können, ohne sich um jegliche rechtliche Legitimation zu scheren. Wenn Putin sich solches erlauben würde, würden die Westmedien schäumen vor Entrüstung. Aber es gibt kaum Kritik, wenn Obama dies tut.

Obama hat die Jugend der USA, die Afro-Amerikaner, Latinos, Arbeitslose enthusiasmiert, wie vor ihm kein US-Präsident, außer vielleicht Abraham Lincoln und John F. Kennedy. Sie müssen zugeben, dass er der Gesellschaft einen Impetus gab.
Das war während der Wahlkampagne vor vier Jahren. In der Tat gab es solche Euphorie seit Kennedy nicht mehr. Obama eilte der Ruf voraus, ein Lincoln oder Roosevelt unserer Tage zu werden. Endlich, so glaubte man, wäre das peinliche Intermezzo republikanischer Großmäuligkeit und krimineller Arroganz vorbei, mit der Bush junior und Cheney den »Rest der Welt« traktierten. Amerika würde wieder sein wahres Wesen zeigen: friedliebend, freundlich und respektvoll anderen Völkern und Nationen gegenüber. Doch die Illusion ist rasch zerplatzt.

Mein Buch beschäftigt sich mit Obama an der Macht. Und natürlich auch, wie er zum Präsidenten gemacht wurde. Seine politische Karriere begann in Illinois. Und die Chicagoer Maschinerie ist nicht die demokratischste Institution der Welt. Man könnte über sie durchaus ein Theaterstück inszenieren, inspiriert von Brechts »Arturo Ui«.

Trotzdem: Sollten Linke nicht hoffen, dass Obama die Wahl wieder gewinnt? Ist nicht zu befürchten, dass mit Mitt Romney wir vom Regen in die Traufe geraten?
Nein. Ich bin dieser Argumente des »kleineren Übels« satt. Wenn Romney gewählt werden würde, was ich persönlich als fast unmöglich ansehe, würde er sich in seiner Politik nur wenig von Obama unterscheiden, so wie zuvor Obama kaum von Bush. Aber auch die Europäer sollten sich nicht erhaben fühlen. Die Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Koalitionen, die ich »extreme Mitte« nenne, verkörpern im Prinzip das Gleiche. Wenn sie herausgefordert werden, wie etwa durch SYRIZA in Griechenland, reagieren sie allergisch und vereiteln vereint sofort jeden Ansatz von neuer, alternativer Politik.

Viele Bürger in den USA mögen enttäuscht sein von Obama. Aber hat er nicht mit seiner - wenn auch halben - Gesundheitsreform für Millionen US-Bürger, die zuvor überhaupt nicht in den Genuss ärztlicher Vorsorge und Behandlung kamen, etwas Gutes getan? Ist das nicht ein Erfolg, den man auch mal loben sollte?
Ein Erfolg? Dass Obama noch mehr Geld den großen Versicherungen, den Pharma-Riesen und privaten Krankenhäusern in den Rachen geworfen hat, statt seine Mehrheit im Kongress und Senat im ersten Jahr seiner Amtszeit zu nutzen, um ein staatlich kontrolliertes Gesundheitssystem durchzusetzen? Während seines ersten Wahlkampfes hat er noch getönt, er werde seine Gesundheitsreform durchsetzen, und wenn sie ihn die Wiederwahl kosten würde. Doch dazu war er nicht bereit. Er hätte nur die 13 Millionen Bürger, die die Reform im Internet unterstützten, zu ermuntern brauchen, auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Doch er verzichtete darauf, wollte sich nicht mit dem Establishment anlegen. Und so degenerierte die Reform zur kosmetischen Korrektur.

In der Tat haben diejenigen, die bislang noch nicht versichert waren, nun einen Anspruch auf Behandlung - wenn sie entsprechende Anträge stellen und zudem als wirklich arm eingestuft werden. Es ist aber noch eine offene Frage, ob dieses System wirklich funktioniert; eine Bilanz kann man erst in ein paar Jahren ziehen.

Sie beschuldigen Obama, ein Diener des Großkapitals zu sein ...
Das ist er - Diener der großen Konzerne. Er verteidigt sie gegen jedwede Kritik und räumt ihnen alle Hindernisse aus dem Weg. Das Recht auf Profit ist auch unter Obama sakrosankt. In Krisenzeiten wird nicht der Kapitalismus gebändigt, sondern die Demokratie.

Aber das unterscheidet ihn nicht von anderen Regierungschefs westlicher Staaten, wie etwa David Cameron oder Angela Merkel.
Da stimme ich mit Ihnen überein. Obama ist nicht der einzige. Na und? Ich sehe die »extreme Mitte« in Europa ebenso kritisch. Parteien links davon, die sich dennoch an Parteien wie der Sozialistischen Partei in Frankreich oder der SPD in Deutschland binden, leiden und werden weiter leiden, wenn sie nicht einen kompletten Bruch wagen. Wie sonst ist das Auftauchen der Piraten zu erklären?

Sie sehen nicht nur eine Kontinuität zwischen Obama und Bush, sondern auch Clinton. Diese drei sind indes total verschieden, nicht nur hinsichtlich Naturell und Intellekt, sondern auch Herkunft.
Verkaufte Illusionen. Man sollte Politiker nicht danach beurteilen, woher sie kommen und was sie einmal gesagt haben, sondern danach, was sie tun, wenn sie an der Macht sind. Und da findet man wenig Unterschiede zwischen diesen drei. Obama ist ein Sohn von Bush junior und dieser ein Sohn von Clinton, jener wiederum ein Sohn von Bush senior. Eine fast biblische Ahnenfolge.

Die Schere zwischen Arm und Reich hat sich in den letzten Jahren in den USA weiter geöffnet, die Demokratie wurde weiter abgebaut. Und Obama würde nicht zögern, die unter Bush junior nach Nine/Eleven zur »Bekämpfung des Terrorismus« erlassenen Gesetze auch auf jene »Terroristen« anzuwenden, die ernsthaft das ungerechte ökonomische System, in der nur der Profit zählt, anzweifeln oder gar beseitigen wollen. Auch außenpolitisch hat Obama keinen Kurswechsel vorgenommen. Das Imperium ist nach wie vor gewalttätig und aggressiv.

Aber vielleicht geht es Obama nur wie Goethes Zauberlehrling, der Gutes wollte und sich überschätzte? Obamas Rede in der Al-Azhar-Universität in Kairo ...
Obamas historisches Vorbild scheint Woodrow Wilson zu sein, ein gottesfürchtiger Christ, der von Frieden, Demokratie und Selbstbestimmung der Völker sprach, während seine Truppen in Mexiko einmarschierten, Haiti besetzten und in Sowjetrussland intervenierten. Im Gegensatz zum grobschlächtigen Gepoltere von Bush und Cheney, die selbst die Verbündeten brüskierten, gibt Obama wohlklingende Banalitäten von sich. Hinter stahlgepanzerter Bigotterie versucht er zu verbergen, dass er die Interessen der Reichen vertritt, die noch reicher werden wollen, ihren Einfluss in der Welt, ihren Zugriff auf Ressourcen und Absatzmärkte erweitern möchten.

Es war in der Tat erstaunlich, dass das Nobelpreiskomitee Obama vorab mit dem Friedensnobel-Lorbeer schmückte. Nicht minder verblüffend jetzt die Entscheidung für die Europäische Union.
Was ist daran erstaunlich? Sie haben auch Kissinger ausgezeichnet, einen Kriegsverbrecher, wie jeder weiß. Schauen Sie sich doch die Liste der Friedenspreisträger an. Es ist ein Skandal! 1936 war sogar Hitler in Betracht gezogen worden. Insofern erstaunt mich nichts mehr, was aus Oslo kommt. Das Friedensnobelpreiskomitee ist eine Bande von Speichelleckern. Literaturnobelpreisträger García Márquez hat den Friedensnobelpreis Kriegsnobelpreis genannt.

Der Afghanistan-Krieg währt nun schon länger als der legendäre Trojanische. Doch wird es nicht schlimmer, wenn der Westen aus dem Land am Hindukusch abzieht? Wird es nicht noch mehr Chaos, Bürgerkrieg, weitere Tote geben?
Die Besetzung von Afghanistan hat sich als totales Desaster erwiesen. Das war absehbar. Wie einst bei den Russen, die aber immerhin einige Fortschritte dem Land brachten, wie etwa Bildung für Frauen und Mädchen, den Aufbau von Krankenhäusern etc. Der Westen kann dieses Land nicht halten. Er muss raus, und zwar so schnell wie möglich. Seriöse Experten in den Vereinigten Staaten sind sich dieser Notwendigkeit bewusst. Wer nach dem Rückzug in Afghanistan regieren wird, ist Sache der Afghanen. Der Widerstand rekrutiert sich doch nicht nur aus alten Taliban, sondern auch aus neuen Kräften. Je länger der Westen dort bleibt, je mehr stärkt er aber die alten Taliban.

Haben Sie eine Ahnung, warum die Proteste gegen die neuen Kriege nicht so stark sind wie einst gegen den Vietnamkrieg der USA?
Die Proteste gegen den Irakkrieg, waren, bevor er begann, gewaltig. Millionen demonstrierten. Trotzdem kam es zum Krieg. Die Bürger haben heute das Gefühl, dass sich die Demokratie ihres Zugriffs, ihrer Beteiligung entzieht. Was auch immer sie tun, es ändert sich nichts. Das Menetekel von Weimar schwebt über unseren Köpfen.

Eine Labour-Regierung hat dem US-Krieg gegen Vietnam Rückendeckung gegeben. Und eine Labour-Regierung hat Bushs »War on Terror« unterstützt. Auch in London gibt es also Kontinuitäten.
Ja, aber die alte Labour-Regierung hat sich geweigert, Truppen nach Vietnam zu schicken. Nicht ein einziges NATO-Land in Europa sandte damals Soldaten. Vergleichen Sie das mit heute! Die deutsche Luftwaffe half Jugoslawien zu bombardieren, mit Hilfe der Grünen. Die »Wehrmacht« steht in Afghanistan. Die britische Armee ist überall. Europa kniet vor den mächtigen Vereinigten Staaten. Der Kontinent war friedlicher während des Kalten Krieges. Die Sowjetunion hat Westeuropa einen politischen Freiraum verschafft. Nun nicht mehr. Wir brauchen alternative Parteien und Bewegungen. Südamerika ist ein interessanter Kontinent in diesen Tagen, wird aber verunglimpft von pro-neoliberalen Medien in Europa und Nordamerika.

In »Piraten der Karibik« haben Sie Lateinamerika als »Achse der Hoffnung« bezeichnet. Aber was wird aus den sozialen Experimenten von Evo Morales oder Hugo Chavez, wenn die US-Administration sich aus dem Nahen Osten zurückzieht? Würde die Gefahr einer Rückkehr zur Monroe-Doktrin bestehen? Die USA Lateinamerika wieder als Hinterhof entdecken?
Das dürfte nicht so leicht sein, wie es erscheinen mag. Südamerika ist heute unabhängiger als zu jeder anderen Zeit in seiner Geschichte. Es gäbe heftige Kämpfe, wenn versucht würde, dort US-amerikanische Macht zu reanimieren und zu behaupten.

Ihr neues Buch endet mit einem Gedicht von Bertolt Brecht, seinem »Lob des Zweifels«. Sie sind ein Fan des deutschen Dichters?
Natürlich. Brecht steht auf einer Stufe mit Goethe, Schiller und Heine. Seine Gedichte sind schön und seine Stücke sind nun wie die der Klassiker anerkannt. Natürlich, blinde Antikommunisten und Narren, die Faschismus und Kommunismus gleichsetzen, verneinen dies: aber das ist ihr Problem.

Sie waren mit John Lennon befreundet. Glauben Sie, dass seine Vision, sein »Imagine« einer besseren Welt ohne Kriege und Hunger, frei von Nationalismus und Hass, die »Brotherhood of man« Wirklichkeit wird? Oder ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz?
John hat für mich einen Song geschrieben: »Power to the People«. Das ist es. Sozialismus mit menschlichem Antlitz war ein gutes Konzept, doch bevor es wirklich angegangen werden konnte, wurde es unter sowjetischen Panzerketten zermalmt und damit, ohne dass Moskau es wahrnahm, auch der sowjetische Sozialismus zerstört. Solschenizyn erklärte, für ihn starben alle Hoffnungen einer Reformierung des Systems im August 1968. Er stand mit dieser Ansicht nicht allein. Das war der erste große Sargnagel für die Sowjetunion und deren Imperium.

Fragen: Karlen Vesper


Tariq Ali, 1943 in Lahore geboren, musste als Student nach Großbritannien emigrieren, da er Demonstrationen gegen die pakistanische Militärdiktatur organisiert hatte und seine Verhaftung drohte. Er studierte weiter in Oxford (Philosophie und Politologie) und war als Mitglied der trotzkistischen International Marxist Group (IMG) in der britischen 68er Bewegung tätig. Während des Vietnamkrieges der USA lieferte er sich öffentliche Rededuelle mit Henry Kissinger. Nach seinem Ausscheiden aus der IMG auf Grund internen Streits wurde er als Schriftsteller und Filmemacher weltweit bekannt.

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