»Ein Anschlag auf unsere Kultur«

Boliviens Außenminister Choquehuanca plädiert für Freigabe des Kokablatt-Kauens und »Gutes Leben«

  • Lesedauer: 4 Min.
Boliviens Außenminister David Choquehuanca Céspedes weilte letzte Woche zu politischen Gesprächen unter anderem in Deutschland. Der 51-Jährige wuchs in einem Dorf am Titicacasee auf und hat in der indigenen Basisbewegung gearbeitet. Über die Legalisierung des Koka-Kauens und die Umsetzung des Konzepts des Guten Lebens in Boliviens sprach mit ihm für »nd« Ben Beutler.

nd:Auf Ihrer Europareise vergangene Woche sind Sie am Freitag auch nach Deutschland gekommen, um für eine Reform des UN-Einheitsabkommen für Betäubungsmittel von 1961 zu werben. Was ist Ihre Forderung?
Céspedes: Um eines klarzustellen: Zu keinem Zeitpunkt ist Bolivien eine komplette Reform in den Sinn gekommen. Bolivien möchte Teil dieses Völkervertrages sein. Kein Komma, kein Punkt, kein Wort wird angerührt. Was wir fordern, ist die Mitgliedschaft im Abkommen mit der Bedingung einer Ausnahmeregelung.

Und zwar?
Dass das Kokablatt-Kauen in Bolivien nicht weiter verboten ist. In unserem Land gibt es das Acullico seit 7000 Jahren. Ich selber kaue Kokablätter. Wir alle kauen Koka, bei der Geburt eines Kindes, zu Beginn eines Fußballturniers, bei einer Hochzeit segnen wir unsere Häuser mit Koka. Die Koka ist immer mit dabei. Unsere Verfassung hat die Koka darum zum nationalen Kulturerbe erklärt. Kein Land schließt sich einem internationalen Mechanismus an, wenn der die eigene Verfassung bricht. Dafür soll die internationale Gemeinschaft Verständnis aufbringen.

2012 hat Bolivien das Abkommen verlassen, nachdem ein erster Vorstoß von Ländern wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland abgelehnt worden war. Eine Sonderregelung würde die Glaubwürdigkeit der Konvention untergraben ...
Bisher gibt es über 30 Ausnahmen. Auch die USA behalten sich doch vor, alle internationalen Verträge an ihrer Verfassung auszurichten. Das wird akzeptiert. Warum also für Bolivien keine Ausnahme? Leider gibt es oft Missverständnisse, was mangelnder Kommunikation und mangelndem Austausch auf diplomatischer Ebene geschuldet ist. Aus Unwissen und fehlenden Informationen kommen manche Länder zu falschen Schlussfolgerungen. Der Vorbehalt gilt nur in Bolivien, nicht in Peru, Argentinien oder Kolumbien.

Wie kam es zum Verbot des Acullico?
Seit Kolonialzeiten wird versucht, das Kokablatt-Kauen zu unterbinden, von der spanischen Verwaltung, der Katholischen Kirche. 1961 haben Experten die »Liste 1« erstellt mit verbotenen Pflanzen, die als gesundheitsschädlich eingestuft wurden samt Folgen des Konsums. Nur beim Kokablatt fehlt diese Angabe. Auch das Kokablatt-Kauen steht auf dieser Liste, ein klarer Anschlag auf unsere Kultur. Koka ist doch kein Kokain. Von Bolivien wurde das Abkommen in Zeiten der Militärdiktatur in den 70er Jahren unterzeichnet. In der Diktatur wurden Bürger- und Indigenenrechte mit Füßen getreten. Heute stehen wir für unsere Kultur ein. Das Unrecht der Militärdiktaturen wird korrigiert. Die internationale Gemeinschaft sollte uns dabei begleiten. Die Konvention von 1961 erlaubt die Nutzung von Koka allein zu Forschungszwecken. Wir kauen Koka aus medizinischen und gesundheitlichen Gründen. Das darf doch nicht verboten sein. Ein Zusatzabkommen von 1988 lässt die Nutzung von Koka an historischen Orten zu. Tausende dieser Orte könnten wir nachweisen, sogar die Steine in Tiwanaku zeigen Gesichter, die Koka in der Backe haben.

Sie haben auch mit Ihrem Amtskollege Guido Westerwelle und Gesundheitsminister Daniel Bahr gesprochen ...
Unsere Position zur Koka, zum Kampf gegen Drogenhandel und für die Verringerung von Koka-Anbauflächen ist auf offene Ohren gestoßen. Sicher wird die deutsche Seite Stellung beziehen. Wir hoffen natürlich, dass die Gespräche mit Deutschland, aber auch in den anderen Ländern Europas, fruchten. Unterstützung haben wir von der Bewegung der Blockfreien Staaten, immerhin 118 Länder. Auch Spanien zeigt sich offen. Zu Boliviens Mitgliedschaft im Abkommen können die Staaten jetzt Stellung nehmen. Außer den USA hat noch kein Land Einwände vorgebracht.

In Berlin haben Sie auch das Konzept des Guten Lebens »El Vivir Bien« vorgestellt. Was ist die Idee dieser Philosophie, die immerhin Eingang in Boliviens neue Verfassung gefunden hat, und inwieweit ist sie schon umgesetzt?
Wir stehen erst am Anfang. Das »Vivir Bien« ist ein Vorschlag in Zeiten der Kapitalismuskrise. Es strebt nach dem Gleichgewicht mit sich selbst, der Umwelt und der Natur. In Bolivien sind wir dabei, diese Codes, dieses alte Wissen, Schritt für Schritt wieder zurückzugewinnen. Unsere Kenntnisse waren über 500 Jahre vergraben. Das »Vivir Bien« strebt nicht nur nach Wohlstand, sondern auch nach Harmonie zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur. Wir wollen die Wirklichkeit nicht so, wie sie ist. Es gibt andere Vorschläge. Alternativen, die jeder von uns tief in sich trägt. Und die mehr mit uns zu tun haben als das, was uns die heutige Realität anbietet. Tief in unseren Herzen wollen wir alle dasselbe, und das soll aufblühen: glücklich sein und Frieden. Krieg und Konflikte möchte niemand.

Boliviens Verfassung will Harmonie von Mensch und Natur und Industrialisierung von Bodenschätzen wie Lithium und Gas. Geht das zusammen?
Veränderung ist nicht von heute auf morgen zu haben. Würden wir den Rohstoffabbau, ein Erbe der Vergangenheit, heute stoppen, der bolivianische Staat wäre sofort zahlungsunfähig. Schauen Sie sich selber an. Um sehen zu können, brauchen Sie eine Brille. Sind Sie gegen Industrialisierung? Wir alle brauchen Industrialisierung. Die Bolivianer, die heute gegen Industrialisierung oder Straßen und Infrastruktur protestieren, sie reisen in Flugzeugen, benutzen Mobiltelefone. Man sollte nicht vergessen: Als Regierung sind wir auch für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse verantwortlich.

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