Ich habe mein Studium der bildenden Kunst 1976 in Braunschweig begonnen und 1982 in Berlin abgeschlossen. Seit nunmehr 23 Jahren arbeite ich also als Malerin in dieser Stadt. Schon gegen Ende des Studiums an der Berliner HdK schloss ich mich einer Gruppe gleichaltriger Studenten an, die eine Selbsthilfegalerie in einer alten Fabriketage in Berlin-Schöneberg betrieb. Anfang der 80er Jahre gab es zahlreiche solcher von Studenten geführten Einrichtungen; damals fanden sich noch viele geeignete und preiswerte Mietobjekte. In die Fabrik zog ich auch gleich ein. Eine zusätzliche Wohnung hätte ich mir nicht leisten können. Gesetzlich war es mir zwar gestattet, im Atelier zu übernachten, allerdings durfte ich dort nicht wohnen, das heißt, ich konnte mich dort nicht polizeilich anmelden. Ich arbeite und übernachte noch heute in der Fabrik, bin seit 1982 mal bei Freunden, mal bei Bekannten polizeilich gemeldet, manchmal in Wohnungen, die ich nie betreten habe. 1987, nach der Sanierung des Hauses, stieg die Miete. Die Erhöhung war aber noch verkraftbar. Damals verkaufte ich bereits meine Bilder.
1983 nahm mich ein bekannter deutscher Galerist in sein Programm auf. Es bestand die mündliche Vereinbarung einer exklusiven Zusammenarbeit. Das bedeutete: Er zeigte regelmäßig meine Bilder in seiner Galerie und auf Messen. Regelmäßige Ankäufe seitens der Galerie bzw. einen monatlichen Scheck gab es nicht.
Zentrales Thema meiner Arbeit war von Anfang an: Tod durch Gewalt, das Verhältnis von Täter und Opfer; in den letzten Jahren setze ich mich überwiegend mit der Thematik häuslicher Gewalt gegenüber Kindern auseinander. Obwohl das Grundthema wahrlich nicht neu ist in der Kunstgeschichte, merkte ich sehr bald, dass meine Arbeiten im öffentlichen Raum kaum ein Zuhause fanden. Verkäufe an Banken und Versicherungen gibt es bis heute nicht. Einige Arbeiten befinden sich in Museen, drei meiner Werke im Willy-Brandt-Haus. Wirkliches Interesse kam nur von Privatsammlern. Vom Verkauf meiner Bilder an sie konnte ich bis 1998 leben, was heißt: Ich konnte malen.
Unmittelbar nach dem Mauerfall merkte man aber bereits einen Einbruch des Kunstmarktes. Zudem spürte man immer deutlicher die Auswirkung eines sich rasant entwickelnden Neoliberalismus. Dies machte sich zunehmend bemerkbar am Kaufverhalten privater Sammler, aber auch an der Kulturpolitik und -förderung, die im Hinblick auf Gegenwartskunst »heruntergeschraubt« wurde. 1993 hatte ich eine Ausstellung in der Berliner Kunsthalle. Es war die letzte, die dort stattfand, nachdem der Senat die Abwicklung dieser Einrichtung beschlossen hatte. Berlin hat bis heute keine neue Kunsthalle.
1984 hatte ich meine Arbeiten in einer etablierten Stockholmer Galerie ausgestellt, 1992 in einer Galerie in Vancouver. Die Stockholmer Galerie ging Mitte der 90er pleite, die in Vancouver betreibt mittlerweile ein Auktionshaus, das überwiegend einheimische Landschaftsmalerei anbietet. Nur zwei Beispiele, die belegen, dass auch außerhalb Deutschlands die oben beschriebene Entwicklung stattfand.
1996 befand ich mich in einer finanziellen Krise. Mein Galerist wollte, konnte mir aber nichts abkaufen. Ich habe dann vieles versucht. Eine Weile ging ich sogar mit meiner Kunst auf die Straße, um dort Bilder anzubieten. In diesem Zeitraum hatte ich zwei Werkverträge im Völkerkundemuseum - jeweils einen pro Jahr! Sie brachten mir jeweils 3000 DM ein. Zudem versuchte ich es mit Nebenjobs und merkte sofort, dass ich drei Jobs brauchte, um allein die Miete, die Krankenkasse und den täglichen Unterhalt zu bestreiten. An den Kauf von Arbeitsmaterial, an die eigene Arbeit war nicht zu denken. Ich stand vor der Frage, zu überleben um den Preis, nicht mehr künstlerisch arbeiten zu können. Allerdings könnte ich ohne meine Arbeit nicht überleben. Ich hatte Angst. Angst verrückt zu werden.
Eines hat mich meine langjährige Arbeit, die sowohl eine Geistesarbeit ist als auch eine handwerkliche, gelehrt: Arbeit schafft Identität, ist eine Lebensnotwendigkeit. Sie ist Denkraum, Selbstvergewisserung, ein Zuhause. Und Identität wird immer wichtiger, je mehr sich Menschen in dieser Gesellschaft gezwungen sehen, auf Familiengründungen zu verzichten.
Eine Familie habe ich nicht gegründet, ich habe auch keine Kinder. Immer musste ich für mein eigenes Überleben kämpfen. Da war für weiteres kein Platz und keine Kraft. Das Abwägen erfolgte sachlich. Man kann nicht alles haben. Diese Unmöglichkeit bedaure ich nicht, solange ich die Möglichkeit habe, meine Arbeit zu machen.
Bis 1998 hielt ich durch, ab und an ein Bilderverkauf, es wurden immer weniger. Dann musste ich das Sozialamt aufsuchen. Von Hause aus ein Tabu. Dorthin geht man nicht. Meine Eltern hatten ein Hut- und Mützengeschäft in Uchte. Finanziell konnten sie mich kaum unterstützen, sie hatten selber Schwierigkeiten.
Auf dem Sozialamt empfing man mich mit den Worten: »Ach, Sie sind Künstlerin«, als wäre dies ein ohnehin schon verdächtiger Beruf. Von dem zuständigen Sachbearbeiter wurde ich behandelt wie arbeitsunwilliges Gesindel. Dann musste ich mich beim Arbeitsamt arbeitslos melden, was ich nicht war. Es war absurd. Vom Sozialamt bekam ich 540 DM, meine Miete allein lag schon weit darüber. Einen Mietzuschuss bekam ich nicht, da ich in einem Gewerberaum wohnte und arbeitete, der mit meiner Meldeadresse nicht übereinstimmte. Wo ich meine Bilder lagern sollte im Falle meiner Obdachlosigkeit, interessierte niemanden. Ich rief Galeristen an, mit denen ich zusammenarbeitete, und bat um die Einlagerung meiner Arbeiten. Die Antwort war, Lagerraum koste Geld.
Dem Rat einer Freundin folgend, ging ich im Bezirksamt eine Treppe höher. Nach einem halben Jahr verschaffte mir die dort zuständige Sachbearbeiterin eine Stelle in einer gemeinnützigen Einrichtung. Ich wurde, vorübergehend, Angestellte des Landes Berlin in der Abteilung für Gesundheit und Soziales, und zwar in der Berliner Künstlerförderung. Dieser Jahresvertrag war ein Segen. Ich erhielt ca. 2100 DM netto pro Monat und konnte meine restlichen Mietschulden zahlen. In der Berliner Künstlerförderung habe ich gerne gearbeitet, freilich unter dem Aspekt, dass diese Tätigkeit auch ein absehbares Ende hatte. Im Kellerdepot wurde Kunst vor der Ausleihe gelagert und restauriert. Ich war noch halbwegs in meinem Metier. Neue eigene Arbeiten konnte ich in diesem und im folgenden Jahr nicht zeigen.
Die Berliner Künstlerförderung, 1950 von Ernst Reuter ins Leben gerufen, um Künstlern in finanziellen Nottagen zu helfen, war eine wichtige Einrichtung. Bedürftige Künstler konnten sich hier um einen Werkvertrag bewerben. Kunst gegen Geld auf der Basis der Entscheidung einer Fachjury. In der gesamten Zeit meiner Tätigkeit bei der Künstlerförderung war von der Abwicklung dieser Einrichtung die Rede. Die Mitarbeiter kämpften. Ich kämpfte mit. Immer mehr hoch qualifizierte Kollegen bewarben sich hier, wo man bei einer Bewerbung seine Bedürftigkeit nachweisen musste. Voraussetzung war ein Einkommen, das dem Sozialhilfeniveau gleichkam. Und die Qualität der per Werkvertrag entstandenen Arbeiten stand in keinem Verhältnis mehr zu dem dafür ausgezahlten Betrag, der zwischen 2000 und 6000 DM lag.
Die sich permanent verschlechternde Situation der bildenden Künstler in Berlin war mit Händen zu greifen. Die Berliner Künstlerförderung wird derzeit abgewickelt.
1999 musste ich mich wieder einmal arbeitslos melden, was ich genau genommen nicht war. Ich war Künstlerin, hatte regelmäßig Ausstellungsprojekte, an denen ich arbeitete. Dennoch musste ich unterschreiben, dass ich nicht mehr als 15 Stunden in der Woche arbeite, lügen also. Ich beschreibe hier eine Situation, die speziell bildende Künstler, Schriftsteller und Komponisten in diesem Land betrifft. In den »normalen« Arbeitsmarktstrukturen kommt man nicht vor (im Gegensatz zu Schauspielern). De facto wird man gezwungenermaßen kriminell, unterschreibt ein mit Halbwahrheiten oder Unrichtigkeiten ausgefülltes Formular. Natürlich arbeitet jeder Künstler mehr als zwei Stunden pro Tag! Natürlich tut jeder Künstler alles mögliche, um überhaupt weiterarbeiten zu können!
Seit 1999 war ich zeitweise Empfängerin von Arbeitslosenhilfe, zeitweise war ich es nicht. Ich war oft abgemeldet, oft länger als drei Monate, selbst wenn ich mich auf das Äußerste beschränken musste. Beschränkung heißt in diesem Fall: Ich verzichtete auf die Realisierung von Projekten, um mir den Gang zum Arbeitsamt zu ersparen. Ich hatte zu große Angst vor einer »Zuweisung« entwickelt. Das kam so:
Am 9. Oktober 2002 erhielt ich eine Zuweisung als Gestalter für Holzobjekte in einem gemeinnützigen Verein in Pankow. Nach anderthalb Stunden erschien der Leiter des Unternehmens und erklärte mir und den anderen pünktlich um 7.30 Uhr erschienenen Arbeitslosen, dass Langzeitarbeitslose das Frühaufstehen nicht gewohnt sind. Keiner konterte, alle hatten Angst. Ich auch. Angst, in diesem Verein arbeiten zu müssen, Angst, dass bei Ablehnung der Arbeit meine Arbeitslosenhilfe »gesperrt« werden würde. Es gab das Projekt »Ökoholz«. Aus alten Paletten sollte Kinderspielzeug für Kitas hergestellt werden. Ich sah ein bunkerartiges Puppenhaus im Foyer stehen, das nicht einmal zur Hundehütte taugte. Mir war ziemlich schnell klar, dass es sich hier um Leute handelte, die mittels eines Vereins allein sich selbst finanzierten. Im Einzelgespräch hieß es dann: »Frau Ruschmeyer, Sie müssen nur Marienkäferchen zeichnen.« »Ich kann das nicht«, sagte ich dann doch. Und zeigte meine Kataloge. Ich hatte Glück. Es funktionierte. Meine »gewalttätigen« Arbeiten waren selbst in den Augen dieses zu allem bereiten Vereins mit Marienkäferchen nicht kompatibel. Ich war kurzfristig gerettet. Aber für wie lange? Eine solche permanente Beunruhigung verfestigt sich, entwickelt sich zur Panik. Man steuert auf etwas Unheilvolles zu. Um zu überleben soll man der Vergewaltigung des eigenen Selbst auch noch zustimmen. Daran verreckt man.
Im vergangenen Jahr habe ich fünf Monate Arbeitslosenhilfe bezogen, insgesamt sind das 2857,62 Euro. Der Gesamterlös aus den Verkäufen in der verbleibenden Zeit beträgt 6321 Euro. Die Jahreskosten für Miete und Strom betragen 7935 Euro.
Inzwischen ist es kaum noch möglich, Sponsoren zu gewinnen. Dies gilt zumindest für Künstler, die nicht die »Weihe« einer Flick-Sammlung haben oder zu Vertretern einer, wie und wodurch auch immer platzierten, Schule gehören. Hat man es geschafft, auf einer arrivierten Messe zu erscheinen, bedeutet dies schon seit langem nicht mehr, man könne etwas verkaufen. 2003 präsentierte ein westdeutscher Galerist meine Arbeiten auf der ART COLOGNE, dann 2004 auf der Arte Fiera in Bologna. In Köln verkaufte ich ein mittelgroßes Bild, in Bologna keins. Im letzten Jahr hatte ich zwei Einzelausstellungen. Zuerst in einer noch jungen Galerie in Berlin, dann in Mailand, vermittelt durch eine bekannte deutsche Galerie. Die Künstler tragen die Kosten des Transports selbst, bauen auch selber auf. Hier wie anderswo funktioniert der Kulturbetrieb auf der Basis immer größerer Selbstausbeutung. Zu einem Teil ist das in Ordnung. Dass sich die Politik allerdings insgesamt aus der Verantwortung für die nachwachsende Kultur schleicht, halte ich für gefährlich. Es wird sich rächen, allein auf das Regulativ eines immer rigider wirkenden Marktes zu setzen. Immer weniger Künstler können es sich leisten, am Kulturbetrieb teilzunehmen.
Ich liebe meine Arbeit, obwohl sie mich ständig quält. Nie bin ich zufrieden damit, nie ist es genug. Jedes Werk muss einen Schritt weiter gehen. Werkwiederholungen zählen nicht, werden verworfen, übermalt. Jeder wirkliche Künstler kennt diesen Prozess, der als solcher schon existenziell ist. Dazu kommen die wirtschaftlichen Existenzängste. Die ökonomische Depression treibt immer mehr Menschen in die seelische. Inzwischen gehöre ich zu dem immer größer werdenden Kreis derjenigen, die einen Psychotherapeuten brauchen.
Zum Geschäft gehört zunehmend das Warten auf einen Verkaufserlös. Meine Mailänder Ausstellung war im Oktober 2004 beendet. Meinen Teil des Verkaufserlöses (1500 Euro) erhielt ich kurz vor Weihnachten, nach unzähligen Nachfragen und der Drohung, einen Anwalt einzuschalten. Wovon hätte ich einen Anwalt bezahlen können?!
Sukzessive erfolgt auch die Verdrängung von Künstlern aus ihrem bisherigen Arbeits- und Lebensumfeld. Die Mieten steigen, die Atelierförderprogramme werden heruntergefahren. Zu beobachten ist die Tendenz, Künstler in stillgelegten Schulen oder maroden Gebäuden am Stadtrand unterzubringen. Eine Gettoisierung, die mehrere Effekte haben wird. Die Künstler werden noch weiter vom Rest des Marktes abgeschnitten. Die kulturelle Funktion, die sie zweifellos in den Stadtbezirken wahrnehmen, wird entfallen. Im öffentlichen Raum werden allein finanzkräftige Künstler verbleiben, die ihre Ausstellungen in Museen finanzieren können, die Produktionskosten ihrer Kataloge selbst bestreiten.
Wie wird ihnen das gelingen? Man klappert den öffentlich goutierten Thementourismus ab, arbeitet en vogue, hängt sich an jedes gerade angesagte Event, zunehmend weniger gestört und verunsichert durch Sehweisen, die sperrig sind, unliebsam, eben nicht windschlüpfrig. Im Interesse des Marktwertes werden keine quälenden Fragen mehr gestellt. Und Künstler, die sich wie ich mit einem Teil dieses Totentanzes beschäftigen, sind eben einfach nicht normal. Man kann gut und gerne auf sie verzichten.
Heike Ruschmeyer wurde in diesem Jahr mit dem Marianne-Werefkin-Preis geehrt.
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