Teppichfachmann im Unruhestand
Ein Rentner aus dem Vogtland berät eine Fabrik in der Mongolei
Das zweite Berufsleben von Werner Müller begann während einer Reise in die Vergangenheit. 2010 fuhr der frisch gebackene Rentner aus dem Vogtland mit einem Trupp ehemaliger Geologen in die Mongolei. Die Touristen besuchten ihre früheren Arbeitsstätten. In der Steppe waren das Goldgruben, die einige von ihnen einst erkundet hatten. In der Haupstadt Ulan-Bator wurden sie in einer Teppichfabrik empfangen. Dort hatte Müller jahrelang Fachleute ausgebildet. Es gab einen »großen Bahnhof« für den alten Bekannten - und eine Bitte: Es laufe nicht alles rund in der Fabrik. Ob Müller nach dem Rechten schauen könne?
Konnte er. Im März 2011 flog Werner Müller wieder in die Mongolei - diesmal zur Arbeit. Der heute 67-Jährige reiste im Auftrag des Senior Experten Service (SES). Die in Bonn ansässige, von den Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft gegründete Agentur schickt bereits seit 1983 Fachleute im Renten- und Pensionsalter in die ganze Welt. Sie nutzen die Fachkenntnisse aus ihren früheren Tätigkeiten, um Firmen, Kommunen oder Organisationen zu beraten und Personal auszubilden. Derzeit seien rund 10 000 Experten registriert, sagt SES-Sprecherin Heike Nasdala: »Sucht ein Auftraggeber einen Experten mit einer bestimmten Qualifikation, müssen wir nur in unserer Kartei nachschlagen.«
Auftragslisten im Gepäck
In Müllers Fall fragte die mongolische Produktionsmanagerin, die einst im heutigen Chemnitz studiert hat, gezielt nach dem Fachmann aus dem Vogtland. Müller kennt die Fabrik, die mit Maschinen und von Fachleuten aus der DDR errichtet wurde, bestens. Im März 1973 flog er erstmals nach Ulan-Bator, erinnert er sich. Über 15 Jahre hinweg schulte der Obermeister aus dem VEB Halbmondteppiche Oeslnitz dann junge Mongolen für die Arbeit an den modernen Teppichwebmaschinen aus Karl-Marx-Stadt. Sie »waren zwar mit Schafwolle vertraut, hatten aber noch nie in einer Fabrik gearbeitet«. Binnen zwei Jahren sei die Produktion gut zum Laufen gekommen, sagt Müller: »Das klappte dann fast wie bei uns.« Gut 60 Prozent der in Ulan-Bator gefertigten Teppiche gingen in die DDR. Die Nachfrage war groß: »Die Teppiche, die wir in Oelsnitz und Adorf produzierten, wurden ja zum Großteil bei Neckermann verkauft.«
Knapp 40 Jahre später existiert die Teppichfabrik in Ulan-Bator noch - im Gegensatz zu vielen anderen Betrieben, die DDR-Fachleute in dem fernöstlichen Land aufbauen halfen. Allerdings gibt es auch im Teppichwerk genug Arbeit für den Seniorexperten aus dem Vogtland: Teile fehlen, Arbeitsabläufe klappen nicht mehr. Also kümmert sich Müller um organisatorische Fragen oder das Mischungsverhältnis für die Appretur, mit der die Teppiche behandelt werden. Er geht in Chemnitz auf die Suche nach Ersatzteilen für Webmaschinen und versucht, eine spezielle Schleifpaste aufzutreiben. Beim Rückflug aus der Mongolei, sagt Müller, »habe ich jedes Mal eine lange Auftragsliste im Gepäck«.
Eine Frage der Wertschätzung
Inzwischen ist Müller schon zweimal an seinem früheren Arbeitsort gewesen, ein dritter Einsatz steht kurz bevor. Seine Rente könne er, anders als die Nachbarn im Vogtland vermuten, damit nicht wesentlich aufbessern: Den SES-Experten werden zwar Flüge, Unterkunft und Verpflegung bezahlt, darüber hinaus aber gibt es nur ein kleines Taschengeld. Für ihn zählt ohnehin etwas anderes: »Ich sehe dort, dass meine Arbeit gewürdigt wird«, betont Müller. In Europa sei die Technologie, die einst auch sein Arbeitsleben prägte, nicht mehr im Einsatz. In Ulan-Bator liefen die Maschinen noch: »Darauf bin ich stolz und möchte das gern erhalten.«
Viel mehr als über Geld freut sich der Teppichfachmann im Unruhestand über die Dankbarkeit der mongolischen Kollegen. Aus einer blauen Schatulle holt er einen großen Orden hervor: ein achtzackiger goldener Stern, so groß wie sein Handteller. Es ist der »Seidenstraßenorden«, den die mongolische Industrie- und Handelskammer seit 2007 an Ausländer verleiht, um deren »Bemühungen für die Entwicklung der Mongolei« zu würdigen. Müller wendet den Stern und zeigt auf eine eingravierte Zahl: Sein Orden ist erst das 113. Exemplar, das verliehen wurde. »Offensichtlich«, sagt er stolz, »habe ich doch etwas geleistet.«
Seniorexperten
Der Senior Experten Service (SES) ist eine von der deutschen Wirtschaft gegründete Stiftung für die internationale Zusammenarbeit. Der SES wurde 1983 gegründet und hat seinen Sitz in Bonn. Er schickt ehrenamtliche Fachleute, die ihr aktives Berufsleben beendet haben, zu Einsätzen vorwiegend im Ausland. Derzeit sind rund 10 000 Experten registriert, von denen knapp 1500 aus Ostdeutschland kommen. 140 Repräsentanten knüpfen weltweit Kontakte zu Auftraggebern.
Neue Fachleute wirbt der SES über seine 14 Büros in Deutschland, auf Messen oder per Weiterempfehlung durch bereits aktive Seniorexperten. Gesucht werden Experten für Einsätze in der Ex-Sowjetunion und Osteuropa, die die dortigen Sprachen beherrschen.
hla
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