Die Frauen vom Tahrir
Als ich um vier Uhr morgens vom Talaat Harb-Platz Richtung Town House Gallery schlendere, sind die Straßen des Stadtzentrums voller Leben. Doch die Szenerie hat auch etwas von der bösen Science-Fiction einer rein männlichen Welt. Man sieht nicht eine einzige Frau!
Auch der sonstige Alltag ist geprägt von Männern. Kairo ist bekannt als Stadt voller sexueller Belästigung und Übergriffe (Taharosch). Während der Festtage potenziert sich die Gefahr, die von jungen Männern auf der Suche nach „Spaß" ausgeht. „Während dem Fest meide ich die Massen", erzählt mir Tarek vom Feminist Studies Center Nazra: „So viele Kids, die gerade ihr Testosteron entdecken. Ich hasse Testosteron."
Während des revolutionären Umbruchs wurde mit viel Spannung erwartet, wie sich dieser auf die Geschlechterverhältnisse auswirken wird. Den „Frauen von Tahrir" widmete Al-Jazeera eine ganze Fotoreportage. Der Tahrir-Platz war während der Revolution ein sicherer Ort für Frauen: Nachts schliefen fremde Frauen und Männer in den gleichen Zelten. Dies war vorher undenkbar. „Neben der Solidarität im Kampf gab es auch diesen psychologischen Moment: Wir können bald hier zusammen sterben", sagt Tarek. „Ein Überlebenstrieb schweißte damals alle zusammen. Und dann der orgasmische Rausch des gemeinsamen Sieges!"
Doch die Revolution bot der Frauenbewegung keinen guten Start. Die Mobilisierung für den Internationalen Frauentag am 8. März 2011 war ein Fiasko. Nur einige Hundert Menschen kamen auf den Tahrir. Dort kam es zu Rangeleien mit Gruppen lästiger Männer. Zum Durchbruch wurde die Frauendemonstration im Dezember 2011, als nach den Kämpfen am Tahrir und Innenministerium Bilder von brutalen Übergriffen von Soldaten auf Frauen über die Bildschirme flimmerten. Manche sprachen von 20.000 Teilnehmern.
„Diese Aktion brachte ein neues Selbstverständnis für die Frauenbewegung, die sich nun als Teil einer größeren Bewegung zur Befreiung des Landes versteht", sagt Tarek. Die Demonstrationen zum Internationalen Frauentag im Jahr 2012 wurden nicht nur größer, sondern auch deutlich offensiver.
Doch die Frauenbewegung kann man nicht nur an der Anzahl von Demonstranten messen. Sie entwickelt sich an konkreten Alltagserfahrungen. Assef Bayat spricht in diesem Zusammenhang von der „Politik des Lebens". Einer der zentralen Konflikte im Leben von Frauen ist die Taharosch - alltägliche Belästigungen und Übergriffe, die ihnen die Teilnahme am öffentlichen Leben so sehr erschweren.
Erst seit kurzem wird das Phänomen überhaupt öffentlich diskutiert. Aus dem Jahr 2006 stammen die ersten Berichte über organisierte Gruppen, die an Feiertagen mit dem Ziel, Frauen zu belästigen durch die Straßen ziehen. Im Jahr darauf wurde der Spielfilm „6,7,8", in dem Taharosch thematisiert wird, zu einem großen Kinoerfolg. Kurz darauf entstand die „Harass-Map" (Belästigungskarte). Menschen können hier sexuelle Belästigung und Übergriffe eintragen lassen. Später soll eine Hotline für sofortige Hilfe hinzukommen.
Nach der Revolution haben sich mehrere Kampagnen zur Bekämpfung von Taharosch gebildet. Nervana ist eine Aktivistin der Kampagne „Schofte Taharosch" (ich sehe Belästigung). Unsere Verabredung platzt, weil sie selber wegen Belästigung an den Feiertagen eine Anzeige stellen will. Also suche ich das Gespräch mit einigen Aktivisten diese Kampagne, die mit gelben T-Shirts durch das Stadtzentrum patrouillieren.
Hosseyni ist Aktivist der linken Bewegung „Jugend für Freiheit und Gerechtigkeit". „Wir dokumentieren nur die Fälle, und informieren die Opfer, wie sie sich wehren können. Wir versuchen auf die Täter einzureden, das sein zu lassen. Wir wollen und können aber nicht die Aufgaben der Polizei erfüllen." Der Polizei wird vorgeworfen, Frauen zu überreden, keine Anzeige zu stellen. In der öffentlichen Meinung herrscht das Bild vor, dass die Frauen selber schuld seien, weil sie zu lässig gekleidet wären.
„Wir plakatieren Bilder von belästigten Frauen in Niqab (Vollverschleierung) und Mädchen in Schuluniform", erzählt mir Husseyni weiter. Auf Facebook gab es Aufrufe, Ketten und Handschellen mitzubringen, um Täter festzunehmen. Die Kampagne „Taharosh bil moteharsch" ruft zu Übergriffen auf Täter auf. Aktivisten der Gruppe „Basma"- sprühen Farbe auf den Rücker der Täter, um sie sichtbar zu machen. „Das ist aber wirklich heikel", sagt die militante Kämpferin May, die in den Basis-Komitees aktiv ist, die während des Aufstandes bewaffnete Sicherheitskontrollen organisiert haben.
„Wenn Leute mit Gewalt in die Gemeinde eingreifen, braucht man dafür eine Legitimierung durch den Konsens der Gemeinde, sonst kommen wir in Teufelsküche. Wir brauche mehr und eine anders geschulte Polizei", sagt Hosseyni. Doch jeder Reformversuch des Innenministeriums wird von alten Eliten blockiert. Im Büro von „Shofte Taharosch" erzählen sie, dass bei den meisten Berichten der Patrouillen die Polizei die Täter schützt.
All diese Kampagnen kleiner Gruppe waren zumindest darin erfolgreich, das Thema zu einer wichtigen öffentlichen Angelegenheit zu machen. In der ersten Nacht des Festes gab es in Kairo ca. 100 Festnahmen wegen Taharosch. In den unmittelbaren Nachwehen der Revolution nahm die urbane Gewalt ab. Doch umso mehr die Erlebnisse der Revolution verblassten, umso mehr der katastrophale Alltag die Menschen einholte, umso mehr nahmen auch sexistische und homophobe Gewalttaten wieder zu. Sicherheitskräfte forcieren diese.
Am letzten Abend des islamischen Opferfestes sehe ich dutzende Freiwillige, die sich gegen Taharosch wenden. Diese kleinen Gruppen zeigen wirklich großen Mut und machen Hoffnung. Doch es wird noch dauern, bis ich meinen Freundinnen und Mitstreiterinnen einen Trip nach Kairo mit derselben Begeisterung empfehlen kann, mit der ich hierher gereist bin.
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