Überstunden als Lehrmethode
DGB kritisiert Azubi-Vergütungen und Ausbildungsbedingungen in Hessen
Schwere Mängel bei der beruflichen Bildung bescheinigt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) hessischen Betrieben und Berufsschulen in seinem Ausbildungsreport 2012. Dabei lasse die Qualität der Ausbildung ebenso zu wünschen übrig wie die Vergütung. So ergab eine repräsentative Erhebung an Berufsschulen, dass Auszubildende im Sechs-Millionen-Land Hessen im Schnitt aller Ausbildungsjahre monatlich 622,49 Euro beziehen. Dies ist deutlich weniger als der für die West-Bundesländer ermittelte Gesamtdurchschnitt für alle Branchen in Höhe von 708 Euro. Je nach Lehrberuf weisen die Vergütungen starke Unterschiede auf - von 476 Euro für angehende Maler bis hin zu 824 Euro für künftige Bankkaufleute, so der 55-Seiten-Report.
Da im Flächenland Hessen etliche Jugendliche vom Elternhaus wegziehen müssten, weil der Ausbildungsplatz nicht um die Ecke liegt, reiche die Ausbildungsvergütung für viele nicht aus, beklagt der DGB. Die Folge: 12,9 Prozent der Befragten - jeder Achte - sind auf einen Nebenverdienst angewiesen. Sie müssen kellnern oder andere Jobs annehmen, um über die Runden zu kommen. »Erschöpfte Auszubildende werden keine guten Fachkräfte«, sagt Anke Muth vom DGB Hessen-Thüringen. Denn abgesehen von den Nebenjobs arbeiteten 20 Prozent der Auszubildenden in der Regel mehr als 40 Wochenstunden. Über 39 Prozent machten regelmäßig Überstunden, 16 Prozent bekämen dafür weder Vergütung noch Freizeitausgleich. Dies hinterlasse Spuren. So klagten 55 Prozent über Probleme beim Erholen nach der Arbeitszeit. »Im Hotel- und Gaststättenbereich sind es sogar bis zu 73 Prozent«, stellte Anke Muth fest. Gleichzeitig sei sich nur gut ein Viertel sicher gewesen, nach Ausbildungsende vom Betrieb übernommen zu werden.
Mangelnde Perspektiven und Überarbeitung sind nicht die einzigen Probleme im Alltag. So beklagte über ein Drittel der Befragten, sie hätten keinen Ausbildungsplan. Jeder Zehnte ist in einem Betrieb ohne Ausbilder tätig, der mit Rat und Tat zur Seite stehen könnte. Solche Klagen häufen sich insbesondere im Malerhandwerk, in Hotels und Gaststätten. Hier sind die Berufe mit den schlechtesten Bewertungen zu finden.
»Vor dem Hintergrund der Diskussion über fehlende Fachkräfte sind diese Ausbildungsbedingungen nur sehr schwer verständlich«, erklärte Anke Muth. Eine deutlich höhere Zufriedenheit zeigten angehende Bankkaufleute, Mechatroniker und Fachinformatiker. Kritisch beleuchtet der Ausbildungsreport auch die Lage an den Berufsschulen. So beurteile nur jeder zweite Auszubildende die schulische Vorbereitung auf die theo-retische Prüfung als »sehr gut« oder »gut«. Probleme seien zu große Klassen und mangelhafte Ausstattung, so Anke Muth. Sie forderte eine bessere Ausstattung für die beruflichen Schulen, moderne Lehrmittel und mehr voll ausgebildete Lehrkräfte.
»In Hessen sind 64 Prozent der Betriebe ausbildungsberechtigt, aber nur 30 Prozent bilden aus«, erklärte Stefan Körzell, DGB-Bezirksvorsitzender für Hessen und Thüringen. »Eine nachhaltige Fachkräftesicherung sieht anders aus«, so der Gewerkschafter in Anspielung auf Klagen aus der Wirtschaft über einen »Fachkräftemangel«. Angesichts anhaltender Nachfrage nach Fachkräften und eines hohen Altersdurchschnitts vieler Belegschaften »dürfte kein einziger Jugendlicher arbeitslos sein«.
Körzell bekräftigte auf nd-Anfrage seine Kritik am laufenden Anwerbeverfahren der Industrie- und Handelskammer in Suhl (Thüringen), die nach Medienberichten spanische Fachkräfte für Industrie und Handwerk auf der Grundlage von 1000 Euro Bruttomonatslohn sucht. »Ich habe nichts gegen Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber bitte zu hier geltenden Bedingungen«, erklärte Körzell. Wie jetzt bekannt wurde, will Hessens CDU/FDP-Landesregierung in einem Modellversuch den Einsatz von zunächst 100 Pflegekräften aus Madrid in hessischen Altenheimen fördern.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.