Das Tagebuch des Joachim Esberg

Gerhard Schulze wusste lange Zeit nur wenig über seinen jüdischen Cousin. Nun kennt er ihn besser - dank seiner Gedichte

»Das Herz zu hegen« - aus diesem Antrieb schrieb Joachim Esberg (rechts im Foto unten, neben seinem Stiefbruder Joachim Gramm) Ende der 30er Jahre Tagebuch. Ein junger Mann, Deutscher, Jude, Student, vor den Nazis nach Belgien geflohen. In Gedichten hielt er seine Gefühle angesichts der immer bedrohlicheren Nachrichten aus der Heimat fest. Gut 70 Jahre später gelangte das Tagebuch zu Esbergs Cousin Gerhard Schulze. Für ihn sind die Verse mehr als ein Stück Familiengeschichte.
»Das Herz zu hegen« - aus diesem Antrieb schrieb Joachim Esberg (rechts im Foto unten, neben seinem Stiefbruder Joachim Gramm) Ende der 30er Jahre Tagebuch. Ein junger Mann, Deutscher, Jude, Student, vor den Nazis nach Belgien geflohen. In Gedichten hielt er seine Gefühle angesichts der immer bedrohlicheren Nachrichten aus der Heimat fest. Gut 70 Jahre später gelangte das Tagebuch zu Esbergs Cousin Gerhard Schulze. Für ihn sind die Verse mehr als ein Stück Familiengeschichte.

Irgendwann im Jahre 1937 kauft sich ein junger Mann im belgischen Gent ein Notizbuch. Es ist kein ganz billiges Exemplar, mit dunkelbraunem Ledereinband und Goldschnitt. Der junge Mann will darin die Gedanken und Gefühle festhalten, die ihn bewegen. Ihn, den Juden aus Wolfenbüttel, der Deutschland verließ, nachdem die Nazis im September 1935 die Nürnberger »Rassengesetze« erlassen hatten. Er ist belesen und gebildet, und so schreibt er in das Buch, das er vorn schwungvoll mit »Joachim Esberg, Gent« signiert, Gedichte, die ihm etwas bedeuten. Französische und niederländische Verse; Gedichte, die er ins Deutsche übersetzt hat. Horaz kommt vor, Verlaine, Heine, Goethe. Und viele Gedichte, die er selbst verfasst hat. Sie sind manchmal pathetisch, manchmal verzweifelt; sie handeln von der Natur und der Liebe, von Einsamkeit und Angst. Immer öfter von Angst.

Ach, wie gerne möcht' ich leben,
Trüg' ich nicht das gelbe Mal!

Drei Jahre lang notiert er in mal kurzen, mal größeren Abständen, worüber er mit niemandem sprechen kann oder will.

Gleichviel ob meine Reime gut
Ob schlecht! Ich weiss,
wie not es tut,
Das Herz zu hegen,
Zwiesprach' mit ihm zu pflegen.

Kein Mensch bekommt die Aufzeichnungen offenbar zu sehen. »Will gar nicht, dass sie's fänden«, schreibt er in Gedanken an mögliche Leser. Dann, 1940, der letzte Eintrag.

Länger als 70 Jahre wird dieses Buch in einer Wohnung in Gent in der Schublade schlummern. Bis es im Herbst 2011 Gerhard Schulze in die Hände fällt. Vielleicht hätte sich Schulze mit dem 18 Jahre älteren Esberg gut verstanden. Sicher hätten sie gern miteinander über Bücher diskutiert, über Philosophie, Geschichte, über das Leben. Denn auch Gerhard Schulze, der als Dozent für Philosophie in Leipzig arbeitete, ist ein neugieriger, belesener Mann. Die Sache muss Vermutung bleiben, der Konjunktiv ist unumstößlich. Esberg und Schulze haben einander nie kennengelernt, obwohl sie sich unter anderen, humanen Umständen gewiss begegnet wären. Sie sind Cousins, verbunden durch eine dramatische Familiengeschichte.

*

Es ist wenig, was Gerhard Schulze lange Zeit über Joachim Esberg wusste. Schulzes Mutter und Esbergs Stiefmutter waren Schwestern. Und Jüdinnen. Schulze, 1934 geboren, musste nicht den gelben Stern tragen, denn sein Vater war, wie die Faschisten es nannten, arisch. Dennoch erlebte er hautnah, was Judenverfolgung bedeutete: Weil der Vater sich nicht von der Mutter trennen wollte, internierte man ihn in einem Lager für »jüdisch Versippte« bei Meißen. Die Mutter wurde zur Zwangsarbeit abkommandiert. Sie musste Uniformen nähen.

Die Teilung Deutschlands nach dem Krieg zerriss die Familie. Joachim Esbergs Vater Ivan und seine Stiefmutter Trude besuchten gelegentlich die Schulzes in Leipzig. Über die alten Geschichten wurde nicht viel geredet; Schulze erinnert sich, dass Tante Trude einmal ihre eintätowierte Häftlingsnummer zeigte. Das Vernichtungslager Auschwitz überlebte sie, erkrankt an Typhus, in der Quarantänebaracke. Als Auschwitz von der Roten Armee befreit wurde, wusste sie nicht, was aus ihrem Mann geworden war. Beide hatten sie einen Sohn aus früheren Verbindungen in die Ehe mitgebracht - Ivan seinen Sohn Joachim Esberg; Trude ihren Sohn Joachim Gramm.

*

Die Esbergs gehörten zu den alteingesessenen Familien in Wolfenbüttel. In der Langen Herzogstraße 46 wohnten sie und betrieben einen florierenden Vieh- und Pferdehandel. Schon das Adressbuch von 1896 vermerkte den Pferdehändler Abraham Esberg. Die Firma war weithin bekannt. »Es ist ein Ros entsprungen aus Esberg seinem Stall«, sangen Kinder in Abwandlung eines Weihnachtsliedes, wie ein Lokalhistoriker berichtet. Joachim Esberg war sieben Jahre alt, als im November 1923 ein nationalistischer Mob in der Langen Herzogstraße randalierte und jüdische Familien und Geschäfte angriff.

Das dürfte sich Joachim eingeprägt haben; wie auch die weiter wachsende Aggressivität gegen Juden nicht spurlos an ihm vorbei gegangen sein wird. Schon 1932, noch vor Hitlers Machtantritt, zerstörten SA-Leute in Wolfenbüttel jüdische Geschäfte. Danach wurde es noch schlimmer. »In den ersten sechs Monaten des Jahres 1933, in die der Boykott der jüdischen Geschäfte fiel, schien die Stadt geradezu vergiftet vom Hass gegen die jüdische Bevölkerung«, schreibt die einstige Wolfenbüttelerin Lotte Strauss in ihren Erinnerungen. Bald hingen überall Schilder mit Aufschriften wie »Juden unerwünscht« und »Rebekka packe die Koffer«. In der Lokalzeitung erschien eine Liste mit der Überschrift »Welcher Geschäftsmann ist Jude?«. Genannt ist unter anderen der Viehhändler Esberg. In einem der ersten Gedichte seines Tagebuchs wird Joachim später schreiben:

Warum muss ich bettelnd flehen
Um etwas, das mein Eigentum?
Warum denn, sagt mir, warum
Muss ich vor fremden Türen
stehen?

Tat etwa ich, wie man nicht tut?
Bin ich nicht, was ihr alle seid:
Ein Mensch voll seiner
Menschlichkeit?
Ach, ich vergass - bin ja ein Jud'!

Vor dem Ersten Weltkrieg lebten rund 300 Juden in Wolfenbüttel. 1933 waren es noch 70. Anfang der 40er Jahre wurden die letzten Juden, die es nicht ins Ausland geschafft hatten, verhaftet und deportiert. 1943 war die Stadt, wie die Nazipresse meldete, »judenfrei«.

*

Zu dieser Zeit ist Joachim Esberg längst in Belgien, in Gent. Sein Vater Ivan, der Pferdehändler, hat dort Geschäftspartner, er will sich eine neue Existenz aufbauen. Joachim schreibt sich 1937 an der Universität Gent für die Fächer Germanistik und Philosophie ein. 21 Jahre alt ist er und offenbar tief unglücklich: aus der Heimat vertrieben, die Liebe hoffnungslos zerrissen. Seine Freundin Lore Schloss, die Tochter des Vorstehers der jüdischen Gemeinde von Wolfenbüttel, war von den Eltern rechtzeitig nach England geschickt worden; ein Wiedersehen scheint unmöglich. Sie tauschen Briefe aus, und Joachim widmet ihr manches Gedicht im Tagebuch.

Ein Herz, das mir alleine schlägt,
Ein Mund, der ängstlich nach mir frägt,
Des allen bin ich sehr bedürftig,
Doch werd ich's kaum erlangen, fürcht' ich.

Die Nachrichten aus Deutschland , bestürzen Joachim Esberg. Und sie bestärken ihn in seiner Überzeugung, dass niemand den verfolgten Juden zu Hilfe kommt. Er hat die anfangs kleinen, dann immer größer werdenden Anfeindungen ja selbst erlebt. Er hat gesehen, wie aus Nachbarn erbitterte Feinde werden können. Und er ahnt wohl, dass die Neuigkeiten aus der Heimat nur schwach widerspiegeln, was dort wirklich geschieht. Nicht nur einmal bezieht er sich in seinen Versen auf die Legende von Ahasver, dem zu ewiger Wanderschaft verdammten Juden.

Ich will nicht Toleranz;
mein Leben will ich leben,
Als Mensch den Menschen gleich,
Als wie es mir gegeben.
Es ist der Juden Klage,
Die meine Lust vergällt
An jedem lichten Tage,
In dieser schönen Welt.

*

Bis heute kann sich Gerhard Schulze einer spürbaren Erschütterung nicht erwehren, wenn er das Tagebuch seines Cousins in die Hand nimmt oder darüber spricht. Seiner Frau Gisela geht es genauso. Sie teilen eine sehr ähnliche Familiengeschichte.

Seit ihnen die ganze Welt offen steht, sind sie viel gereist. Sie hatten einen ganz speziellen Nachholbedarf: Sie suchten die Spuren ihrer Vorfahren und Verwandten, die es wegen der Judenverfolgung in die weite Welt zerstreut hat. Zu DDR-Zeiten wussten sie darüber nicht all zu viel. Zwar hatte Gerhard Schulze schon 1964 seine Dissertation drei Verwandten gewidmet, die von den Nazis ermordet wurden: »meinem Onkel Max Meyerstein … ermordet im Jahre 1940 auf dem Transport in das KZ Auschwitz«, »meinem Vetter Joachim Esberg … ermordet von deutschen Faschisten« und »meinem Vetter Joachim Gramm … ermordet am Jahre 1945 im KZ Buchenwald«.

Das ganze Ausmaß des Grauens jedoch, das der Holocaust über ihre Familien gebracht hatte, konnten Gisela und Gerhard Schulzes erst viel später ermessen. In die USA reichen die Linien der Verwandtschaft, nach Südamerika, nach Israel und Australien. Viele jüdische Friedhöfe haben sie auf ihren Reisen besichtigt, haben nach Grabstätten gesucht, die Efeuranken von unzähligen Grabsteinen beiseite geschoben, um die Namen der Toten zu lesen.

Eine Reise führte sie im Herbst 2011 nach Flandern. Dort besuchten sie Margrit Zerfass, die inzwischen geschlagene 101 Jahre alt ist und lange Zeit den Haushalt der alten Esbergs geführt hatte. Man unterhielt sich über das Schicksal der Familie, und dann holte Margrit Zerfass das dunkelbraune Notizbuch hervor, das bis dahin wohl nur Joachims Eltern und sehr wenige Verwandte kannten. Dieses Buch voller Gedichte, eine Taschenuhr, eine Krawatte und ein verblichenes Foto sind alles, was von Gerhard Schulzes Cousins Joachim Esberg und Joachim Gramm geblieben ist.

*

Am 9. November 1938 werden überall in Deutschland massenweise und systematisch Synagogen angezündet, jüdische Geschäfte zerstört und jüdische Familien überfallen. Spätestens jetzt ist klar, dass die Nazis bei ihrem Hassfeldzug gegen die Juden keine Hemmungen kennen. Joachim Esberg muss in Gent davon gehört haben. Er will seine Gedanken darüber in Worte fassen, aber die Brutalität macht ihn beinahe sprachlos. Sein Gedicht »November 1938« besteht aus nur wenigen Zeilen:

Ich wollte meine Worte fügen
In einem Denkmal, dass ein Jeder
Die Wahrheit wisse, die es trüge:
Doch ach, mir bricht das Herz, zerbricht die Feder!

Obwohl Belgien zu dieser Zeit noch sicheres Ausland ist, ahnt Joachim Esberg nichts Gutes. Irgendwann im Jahre 1939 notiert er:

Was haben wir getan,
die, da wir leben,
leiden müssen
und unsren Fluch
nicht fliehen können,
als in den Tod,
der alles löst?

Im Mai 1940 marschiert die Wehrmacht in Belgien ein. Joachim Esberg, der zuletzt für das Studienjahr 1939/40 unter der Nummer 79909 an der Universität immatrikuliert war, kommt nicht mehr dazu, sich auch für das folgende Jahr einzuschreiben. Er flieht mit seinem Stiefbruder Joachim Gramm nach Frankreich. Dort werden sie verhaftet und in ein Internierungslager gesperrt, später werden sie nach Auschwitz deportiert. Das Schicksal von Gramm hat die deutsche Todesbürokratie exakt dokumentiert: Er kommt schließlich nach Buchenwald, registriert in der Kategorie »Politisch/Jude«. Mit Datum vom 22. Februar 1945 taucht er ein letztes Mal in der »Veränderungsmeldung« auf: unter der Überschrift »Abgänge«. Von Esberg weiß man nur, dass er irgendwann in Auschwitz zu Tode kam. Ermordet? An Entkräftung oder Krankheit gestorben? »Im KZ umgekommen«, heißt es lapidar auf einem Grabstein in Wolfenbüttel.

*

Die Eltern von Esberg und Gramm, Trude und Ivan Esberg, fanden sich nach dem Krieg wieder. Sie war in Auschwitz, er war in Südfrankreich untergetaucht. 1950 kehrten sie nach Wolfenbüttel zurück, wie auch andere Juden. Aber sie ertrugen die Nachkriegsatmosphäre nicht, in der niemand an den Verbrechen schuld gewesen sein wollte und den Opfern Ablehnung entgegen schlug. Die Esbergs gingen wieder nach Gent, wo sie bis zu ihrem Tod blieben. 1959, konstatiert ein Lokalhistoriker, war Wolfenbüttel zum zweiten Mal »judenfrei«.

In Gent erinnert eine Tafel in der Universität an Joachim Esberg, die ihn in einer Liste von Opfern der Shoah nennt. Im Gehweg vor dem einstigen Wohnhaus der Esbergs, in der Langen Herzogstraße 46 in Wolfenbüttel, sind seit einem Jahr Stolpersteine für die früheren Bewohner verankert, auch für Joachim Esberg. Darauf ist 1942 als sein Todesjahr genannt.

*

Der letzte Eintrag in Joachim Esbergs Tagebuch ist kein Gedicht von ihm selbst. Es ist »Wanderers Nachtlied«. Man mag kaum an einen Zufall glauben. Hat Esberg es bewusst als Schlusspunkt gewählt, als er erkannte, dass es in Gent zu gefährlich wird? Es scheint so. Er, der Literatur- und Sprachversessene, schreibt Goethes Verse zweimal - auf Deutsch und in französischer Übersetzung. Darunter zieht er einen Strich, dann die Jahreszahl 1940. Es sieht aus wie ein Schlussstrich.

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
kaum einen Hauch.
Die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
ruhest du auch.

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