Anarchie in den USA
Die Texte des anarchistischen CrimethInc-Kollektivs liefern eine Mischung aus politischer Theorie und subkultureller Geschichte
Als vor einem Jahr Occupy Oakland einen Generalstreik organisierte, den viertgrößten Hafen der Westküste besetzte und Vermummte durch die Oaklander Innenstadt tobten, wurde das andere, militante Occupy sichtbar. Die Oaklander Akteure distanzierten sich von den geordneten Protesten in New York. Kurz nach den Ereignissen meldete sich das anarchistische Autorenkollektiv CrimethInc. (engl. für »Gedankenverbrechen« aus George Orwells »1984«) mit einem offenen Brief an die Occupy-Bewegung zu Wort. Die Krise werde nicht durch ein paar faule Äpfel verursacht, heißt es darin, sondern sei dem kapitalistischen System inhärent. Gesetzestreuer Protest sei deshalb fehl am Platz, die Protestierenden sollten endlich ihre Wut zulassen. Der Text »Dear Occupiers« wurde von der weitgehend friedlichen Bewegung breit rezipiert und kritisch diskutiert.
Das Kollektiv CrimethInc ist ein schwer fassbares politisches und subkulturelles Phänomen. Seit Mitte der 90er Jahre in den USA aktiv hat die anonyme Gruppe Texte und Manifeste verfasst, die nun auf Deutsch in dem Band »Message in a Bottle« erschienen sind. Gabriel Kuhn, der sich seit Jahren mit anarchistischen Strömungen beschäftigt und das Vorwort zur deutschen Ausgabe geschrieben hat, hält CrimethInc. für das einflussreichste anarchistische Projekt der letzten 15 Jahre.
Ihre Texte werden über das Internet und gedruckt weltweit verbreitet und finden auch hierzulande Beachtung. Das Manifest »Fighting for our lives« von 2002, das eine antihierarchische Selbstorganisation als Grundlage jeden politischen Kampfes fordert, wurde in den USA im Copyleft-Verfahren in einer Auflage von über 650 000 Stück verteilt. Die Akteure des Kollektivs stammen vorwiegend aus dem Nordwesten der USA, vor allem aus Portland und Eugene in Oregon. CrimethInc. rekrutiert sich aus der Hardcore-Punkbewegung, dem radikalen Tierrechtsaktivismus, der auf Drogen verzichtenden Straight-Edge-Bewegung und lieferte 1999 eine politische Begründung für die militanten Aktionen gegen die WTO-Konferenz in Seattle.
Das Faszinierende an der jetzt veröffentlichten »Werkschau« des Kollektivs ist die darin ablesbare Entwicklung der Gruppe. Das Spektrum der Texte reicht vom romantisch verklärten Lifestyle-Anarchismus, der den Bruch mit allen bürgerlichen Konventionen fordert, bis zur Analyse der postfordistischen Arbeitswelt und wie sich älter gewordene Anarchisten mit kapitalistischen Zwängen strategisch arrangieren, um weiterhin politisch aktiv sein zu können. Ein Text geht auf die staatliche Repression ein, schildert detailliert die Vorgehensweise des FBI bei der »Operation Backfire« Mitte der 00er Jahre und diskutiert mögliche Gegenstrategien. Immer wieder tauchen in den theoretischen Texten über Aufstandsszenarien und autonome Selbstorganisation Verweise auf direkte Aktionen auf - so zum Beispiel auf eine spontane Demonstration nach einem illegalen Konzert in einer besetzten Fabrik, die von der Polizei geräumt wurde. Eine tolle Mischung aus politischer Theorie und subkultureller Bewegungsgeschichte.
CrimethInc.: Message in a bottle, Unrast-Verlag, 200 S., 16 €. Das Buch wird am 18.11. in Potsdam (Buchladen Sputnik, Charlottenstr. 28) und am 19.11. in Berlin (Laidak, Boddinstr. 42/43) vorgestellt.
Der Brief an die Occupy-Bewegung im Netz unter: www.crimethinc.com/blog/2011/10/07/dear-occupiers-a-letter-from-anarchists
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