»Ungarn muss sich befreien«
Ágnes Heller über Demokratiedefizite und die Rolle der Opposition
nd: Auf der Tagung wurde mehrmals darauf hingewiesen, dass die Gewalt gegen Roma ein ungarisches Problem sei, das nicht von der EU gelöst werden kann. Stimmen Sie dem zu?
Heller: Europa hat sich für alle Dinge zu interessieren, die innerhalb seiner Mitgliedsstaaten geschehen. Dazu gehört die offene Feindseligkeit gegenüber den Roma genauso wie die Einschränkung der demokratischen Freiheiten in Ungarn. Das ändert jedoch nichts daran, dass sich dieses Land selbst von seiner Regierung befreien muss, damit sich etwas ändert. Natürlich gehört auch dazu, dass frei darüber gesprochen werden muss, wie man die Jobbik-Partei einschränken kann und die zahlreichen pseudomilitärischen Gruppen verbietet.
Wie konnte es denn so weit kommen?
Wir haben damals mit der Systemwende zu viele Freiheiten quasi geschenkt bekommen. Niemand hat sich wirklich um die konkrete Ausformulierung dieses hohen Wertes gekümmert, geschweige denn dafür gekämpft, was er eigentlich für uns bedeuten soll. Nun wird etwas Essenzielles wie das Wahlrecht eingeschränkt. Das ist natürlich ein Thema, das auch die Europäische Union kümmern sollte. Dieses Gesetz, das Wähler dazu zwingt, sich vor der Wahl registrieren zu lassen, sollte auch durch den Druck der EU keine Anwendung finden.
Und die Opposition? Der ehemalige Ministerpräsident Gordon Bajnai gilt als neue Hoffnung?
Um sich Gehör zu verschaffen, muss die demokratische Opposition selbst aktiv werden. Das gemeinsame Ziel ist ein Regierungswechsel. Das ist der Teil, den Ungarn selbst beisteuern muss, da hilft auch die Europäische Union nicht. Gordon Bajnai wird derzeit nur von ein paar Gruppen unterstützt, die noch relativ wenig Einfluss haben, beispielsweise zwei kleinere Gruppen, die sich in Budapest formiert haben. Er ist auch sicherlich nicht die einzige Figur, die im Wahlkampf noch eine Rolle spielen wird.
Wo liegt denn die größte Schwäche der Opposition?
Es ist so, momentan sind 78 Prozent der ungarischen Bevölkerung mit der Regierung unzufrieden, obwohl die sich damit rühmt, eine Zweidrittelmehrheit im Parlament zu haben. Innerhalb der Opposition ist man von einem Wahlbündnis aber weit entfernt. Es gibt genügend Konflikte, die es verhindern, dass sie mit einer Stimme spricht. Um die Regierung abzulösen, sollte man sich über diese Uneinigkeiten, gerade was die wirtschaftliche Ausrichtung Ungarns angeht, hinwegsetzen. Die Sozialistische Partei und die grün-liberale LMP konnten sich beispielsweise nicht zu einem gemeinsamen Solidaritätsbekenntnis durchringen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.