Protest braucht Perspektive
Konferenz sucht nach Leitbild für ein soziales und demokratisches Europa
nd: Im April haben Sie mit anderen den Aufruf »Europa neu begründen« initiiert. Das Ziel war, vorhandene Proteststimmen gegen die europäische Austeritätspolitik zu sammeln und so eine gesellschaftliche Gegenmacht aufzubauen. Was ist seitdem passiert?
Urban: Mittlerweile gibt es in mehreren europäischen Ländern ähnliche Aufrufe. Daraus ist eine Initiative entstanden, diese Aufrufe auf einem großen alternativen europäischen Alternativgipfel im Juni 2013 in Athen zu diskutieren. Hier sollen die Kräfte all derer gebündelt werden, die das Konzept einer solidarischen Entwicklung in Europa voranbringen wollen. Gleichzeitig ist ein offenes Netzwerk entstanden, das konkrete Proteste plant. So soll der EU-Gipfel im kommenden März von Aktionen begleitet werden. Bei aller Unzulänglichkeit angesichts der Situation, wir sind mit der Koordinierung der Gegenkräfte vorangekommen.
Welche Rolle spielen die Gewerkschaften in diesem Prozess?
In den südeuropäischen Ländern, in denen die Menschen die ökonomische Sinnlosigkeit und soziale Brutalität der Austeritätspolitik spüren, sind die Proteste wesentlich stärker. In Deutschland ist die Krise weniger stark ausgeprägt und die Situation der Menschen vergleichsweise besser. Das kann sich schnell ändern. Ich denke aber, dass der 14. November, der Tag des europäischen Gewerkschaftsprotestes am vergangenen Mittwoch, einen Wendepunkt darstellt, auch wenn die unterschiedliche Betroffenheit sich auf die Beteiligung ausgewirkt hat.
Was sollten die Gewerkschaften darüber hinaus fordern?
In Deutschland brauchen wir eine offensive Lohn- und Verteilungspolitik, um den Binnenmarkt zu stärken und Ungleichgewichten in der EU entgegenzuwirken. International steht der Kampf gegen die Interventionen der EU und der Nationalstaaten im Mittelpunkt, die mit ihrer Sparpolitik die Absenkung der Löhne im öffentlichen Sektor wie in der Privatwirtschaft erzwingen. Ein weiteres Thema für uns ist die Steuerpolitik, bei der wir offensiv die Besteuerung großer Vermögen einfordern müssen. Darüber hinaus ist es für uns als Gewerkschaften generell notwendig, offensive Aufklärungspolitik zu betreiben. Wir müssen zeigen, wie ideologisch die neoliberale Propaganda agiert. Zum Beispiel Spanien. Hier lag die Staatsverschuldung 2007 bei 36 Prozent, halb so hoch wie in Deutschland. Durch die Finanzkrise ist die Verschuldung explodiert. Das lag also keinesfalls am überbordenden Sozialstaat, wie uns neoliberale Ideologen weismachen wollen.
Ein Hauptgedanke des Aufrufs ist: Europa braucht eine Demokratieoffensive. Warum?
Wir beobachten eine Entwicklung hin zu einem neoliberalen autoritären Europa, in dem die demokratischen Spielräume systematisch eingeschränkt werden. Das führt zur Entfremdung bei den Bürgerinnen und Bürgern und macht Europa zu einem abgehobenen Eliteprojekt. Deshalb brauchen wir eine radikale Demokratisierung und eine Reform der europäischen Institutionen. Zudem wollen wir erreichen, dass bei grundlegenden Entscheidungen die europäischen Bevölkerungen befragt werden.
Wie realistisch ist angesichts der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse solch ein demokratisch begründetes Europa?
Der Protest braucht eine Perspektive. Eine erfolgreiche Mobilisierung ist das eine. Aber wenn die nicht mit der Perspektive für ein anderes Europa verbunden wird, werden die Menschen irgendwann resignieren. Deshalb müssen wir gemeinsam ein Leitbild für ein soziales und demokratisches Europa entwickeln. Ob wir erfolgreich sein werden, kann ich nicht sagen. Aber ich sehe keine Alternative.
Die Konferenz über Alternativen zur Sparpolitik »Europa neu begründen - Wege aus der europäischen Krise« findet am heutigen Samstag ab 10.30 Uhr am Campus Essen (Universität Duisburg-Essen) statt.
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